Gewissheit als Wahnvorstellung, oder, abgeschwächt, wie es in der deutschen Übersetzung heißt, „Die Illusion der Gewissheit„, hat Siri Hustvedt ihren zweihundertseitigen Essay überschrieben, der den zweiten Teil in der Sammlung „A Woman Looking at Men Looking at Women“ bildet. Grob gesagt geht es darin um Fragen von Geist vs. Materie oder auch Seele/Bewusstsein vs. Körper – und um die Frage, wieso sind sich die diversen Wissenschaften, die das menschliche Bewusstsein und/oder das Gehirn erforschen, eigentlich gar nicht bewusst, dass sie sich alle auf die eine oder andere Weise auf die alten, philosophischen Fragen nach dem Verhältnis von Körper und Geist bzw. Materie und Bewusstsein beziehen? Ein wunderbarer Parforce-Ritt durchs wahrhaft weite Feld von Philosopie und Wissenschaftsgeschichte bis hin zu aktuellen Entwicklungen in Neurologie, Hirnforschung und der sogenannten KI – elegant und geistreich geschrieben, das ist bestes Futter fürs Hirn.
Einige Passagen, Gedanken, Formulierungen, die mich beim Lesen ganz besonders aufmerken ließen, die Türen aufstießen und Denk-Räume öffneten, möchte ich hier in den nächsten Tagen zusammentragen und teilen. Den Anfang macht eine Stelle, die mir beim Lesen schier den Atem raubte, denn was ich da las, war zugleich ein Wieder-Lesen – noch nie bin ich so persönlichen Gedanken bei einer anderen Person begegnet:
When I was a child, thoughts about thoughts sometimes arrived at moments when the world suddenly felt unreal to me and I felt unreal to myself. What if I am not Siri? What if I am a person inside another person’s dream? What if the world were a world inside another world inside another world? What are human beings really and how can we know what we are? How is it that we can talk to ourselves inside our own head? What are words?
[Siri Hustvedt, „The Delusions of Certainty“, in: Hustvedt ‚A Woman Looking at Men Looking at Women‘, p. 142]
Die Vorstellung, ich könnte der Traum eines anderen Kindes sein, begleitete mich ungefähr bis ich zehn war, und ich erinnere mich noch, wie ich im Sommerurlaub auf dem Weg zum Strand plötzlich einen „Beweis“ hatte, warum das nicht der Fall sein konnte – einen Beweis, den laut meiner Doktormutter die Philosophen seit Jahrhunderten erfolglos suchen. Leider erinnere ich mich an meinen nicht mehr – dafür um so mehr an ewig im Kopf kreisende Spiralfragen wie „Was ist das Ich, das hier denkt, und warum befindet es sich in diesem Körper und nicht in einem anderen?“ oder „Warum heißt der Schrank Schrank?“ Lange Zeit dachte ich, alle Menschen müssten sich solche und ähnliche Fragen als Kinder gestellt haben, und war überrascht, wie viele das offenbar entweder nie getan oder es als Erwachsene schlicht vergessen hatten. Um so schöner, überraschender, diesem Denken ausgerechnet in Hustvedts so klugem wie persönlichen Essay wiederzubegegnen. 🙂
Gerne begegnet wäre ich auch einigen der Menschen aus Hustvedts Umfeld, die sie zu ihrer Einstellung zum „Geist“ (mind) bzw. wie sie dessen Verhältnis zum Gehirn sehen. Allemal den beiden mit den interessantesten Antworten:
One clever man told me that the mind is the thoughts that the brain produces. One clever woman told me that the mind is consciousness, and the brain is the organ of consciousness. Neither of them is a philosopher. The man is a writer, and the woman an actress, but both of them had wondered and worried about the mind question. I took their answers to mean that a person’s internal experience of thinking and more broadly the experience of consciousness itself are different from simply understanding the brain’s operations, even if the brain is responsible for thoughts and consciousness.
[Hustvedt, The Delusions of Certainty, p. 157]
Ich muss gestehen, diese Frage hatte ich mir noch nie gestellt: wie genau sieht das Verhältnis zwischen dem Geist, dem Denken oder eben dem Bewusstsein als den mentalen Regungen, die ich selbst an mir wahrnehmen und (teils) auch steuern kann und dem Gehirn mit all seinen Arealen und Neuronen aus? Denkt das Gehirn, denke ich mit dem Gehirn, passieren all diese inneren Bewegungen nur in der grauen Masse zwischen meinen Ohren oder sind daran auch andere Organe beteiligt? So gesehen scheint die Vorstellung, man könnte den menschlichen Geist komplett unabhängig vom Körper verstehen oder betrachten, reichlich absurd. Hm, und das ausgerechnet von mir, die lange Zeit behauptete, die beste Beschreibung meiner eigenen Innenwahrnehmung wäre die eines körperlosen Beobachters, einer Art definitiv nichtgöttlichen „Geistes über den Wassern“. 😉