Lincoln in the Bardo

Jahre, ja Jahrzehnte soll George Saunders nach einem Weg gesucht haben, Lincolns Trauer um seinen kleinen Sohn Willie literarisch zu verarbeiten: Was ging im Präsident vor, als er in der Nacht nach der Beerdigung auf den Friedhof ging, im Mausoleum den Sarg öffnete und das tote Kind im Arm hielt? Wie fügt sich das in den Hintergrund des Bürgerkriegs ein? Und was haben die Toten den Lebenden zu sagen? Wo mich natürlich ganz besonders die Frage interessierte, wie stellt Saunders die Kommunikation zwischen Toten und Lebenden dar?

Einseitig, könnte man sagen, denn die Toten (zumindest die, die sich nicht eingestehen, dass sie tot sind und die auf dem Friedhof bleiben,  sich an ihr Da-Sein auf Erden klammern statt weiterzuziehen, loszulassen) können zwar die Lebenden sehen und hören und sogar deren Gedanken und Gefühle wahrnehmen, wenn sie sich – räumlich betrachtet – in sie hinein begeben, aber umgekehrt geht nichts. Die Lebenden bleiben mit ihren Fragen an die Toten allein, müssen sie sich selbst beantworten, auch, wenn sie, wie Lincoln, den Leichnam ihres Kindes in Armen halten und die Seele, der Geist des Kindes mit aller Macht versucht, mit ihnen in Kontakt zu treten.

Das ist die Inhaltsseite von „Lincoln in the Bardo“, zu der es auch gehört, dass Saunders einen Bogen schlägt zwischen dem individuellen Schicksal des trauernden Vaters und dem Präsidenten in Zeiten des Bürgerkriegs, dass er tote Soldaten und Rassisten auftreten lässt, zugleich jedoch selbst die toten Schwarzen ihre Hoffnungen auf Lincoln richten.

Noch spannender, wenngleich anfänglich gewöhnungsbedürftig ist für mich die Form des Buches, die einerseits an Dramen erinnert und andererseits eine Art literarische Collage darstellt. Streng genommen gibt es keinen Erzähler bzw. keine Erzählpassagen, sondern nur zwei Arten von Figurensichten: die der Toten, die tatsächlich Mono- und Dialoge führen und die darüber die eigentliche Handlung in der Nacht auf dem Friedhof vermitteln, aber auch ihre eigenen Sterbens- und Lebensgeschichten erzählen (bei aller Tragik immer wieder saukomisch, anders kann man das nicht sagen), ist so etwas wie die fiktionale Seite des Ganzen. Darin eingebettet gibt es immer wieder Kapitel, die die Welt der Lebenden schildern, sei es der Empfang am Abend, als Willie Lincoln stirbt, seien es Ansichten über Lincoln allgemein oder auch Brief- und Tagebuchstücke aus der Nacht, um die sich alles dreht. D.h. die Zeugnisse realer Personen werden als Zitate verwendet, aus denen eine Art Außenseite, eine historische Realebene gewebt wird.

In gewisser Hinsicht erinnerte mich das Verfahren immer wieder an Thornton Wilders Stück „Our Town„, vor allem an dessen dritten Akt – nur halt, dass bei Saunders keine „kleine Stadt“ das Setting ist, sondern die menschliche Seite hinter der großen politischen Bühne, wenn man so will. Dazu wiederum passt es, dass die Toten sozusagen die komplette Bandbreite menschlichen Fühlens und Handelns mitbringen; dass sie grotesk erscheinen mögen (wörtlich wie metaphorisch), tragisch-stur, melancholisch und immer wieder geradezu saukomisch auftreten, aber letztlich vor allem höchst lebendig daher kommen.

Eben ganz so wie wir heutige Leser, die wir noch lebendig sind und auf Erden … und die wir wohl nur bedingt aus der Geschichte gelernt haben. Aber wenn es Hoffnung für die Toten und die Trauernden gibt, dann wohl auch für uns.

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