Schwer zu sagen, was ich davon halte. Es war weitgehend unterhaltsam zu lesen, und wo es geschwätzig wurde (was bei den meisten Romanen in der Klasse über 400 Seiten leicht der Fall ist), konnte ich mir querlesend behelfen. Vieles ist pointiert formuliert, gekonnt changierend zwischen Ironie und Melancholie, wie es eines österreichischen Schriftstellers würdig ist. Vermutlich ist es hervorragend recherchiert. Aber ist es deshalb ein gutes Buch, ja ein herausragendes, das zu Recht den Deutschen Buchpreis bekam?
Robert Menasse gilt als Europa- wie als Brüssel-Kenner und als EU-Verfechter obendrein. Nach zig Essays zum Thema Europa – ein wichtiges, geradezu essenzielles, wie ich finde, gerade in Zeiten allerorten aufflammenden Nationalismus‘ -, eilte seiner „Hauptstadt“ der Ruf voraus, so etwas wie sein Roman gewordene Vermächtnis in Sachen EU zu sein. Und nachdem ich in dem Thalia-Heftchen zur Buchpreisnominierung letztes Jahr den Anfang des Buches las, wollte ich es unbedingt haben: das Schwein, das durch Brüssel getrieben wird bzw. durch die Stadt läuft und Passanten wie Protagonisten aufschrecken, auf- und ihm nachschauen lässt, versprach einen auktorialen Erzähler besonderer Art und obendrein Literatur in eleganter (Reigen)Prosa.
All das bietet das Buch: diverse Brüsseler Bürokraten mit passenenden Lebensläufen, dazu einen Professor, der Brüssel retten möchte, einen Holocaust-Überlebenden der sich selbst beim Umzug ins Altenheim verliert, einen Kommissar, der den Mordfall zu Beginn des Romans nicht ermitteln darf, weil dem höhere Interesse entgegenstehen, etc. Klischeehafte Bürokratie-Mechanismen (jedenfalls erscheinen sie mir so, denn der Kenner dieser Szene schildert mir zu meinem Erstaunen das, was ich als normalsterbliche Europäerin und EU-Befürworterin mit kritischem Blick auf Lobbyisten und Papiertiger eh aus den Medien im Alltag mitnehmen kann) treffen auf Verschwörungen (der Geheimdienst des Vatikans …), zwischendrin werden diskutierenswerte Thesen aufgeworfen, die jedoch die Figuren unter sich begraben, und der Krimi … nun, da das hier „Hochliteratur“ ist, wird daraus nichts, nur eine vage Andeutung mit einem zufällig-absurd-fatalen Ende, das jedoch so nur der Leser kennt.
Die Figuren sind Mittel zum Zweck, nicht mehr und nicht weniger. Sie vertreten Haltungen zu Europa, zu Krieg und Frieden, zu Bürokratie, zu Moral, Karriere, zu Flüchtlingen und Schweinezucht. Aber sie interessieren den auktorialen Erzähler nicht. Sie sind Schachfiguren, Rädchen im Uhrwerk seiner Geschichte – wobei, ist es eine Geschichte, also eine Erzählung mit Anfang, Mitte und Ende? Eine Reise, die die Figuren unternehmen, an deren Ende sie andere sind als sie am Anfang waren? Gut, diverse von ihnen überleben die Geschichte nicht, dank zweier Selbstmordattentate ganz verschiedener Art. Aber das hat den Ruch des Zufälligen, sie sind zum falschen Zeitpunkt im falschen Zug bzw. auf dem falschen Bahnsteig. Und das wiederum nährt den Verdacht, dass es eben keine Geschichte ist, die am Anfang eine Frage aufwirft (oder mehrere), dieser/diesen dann folgt, eine Entwicklung durchmacht, dabei den Leser mitnimmt, intellektuell wie emotional, und am Ende steht dann etwas, das wiederum eine spezielle Beziehung zum Anfang aufweist. Nein, dieser auktoriale Erzähler, so meine zugespitzte These, muss seine Figuren umbringen, damit das Ganze ein Ende hat.
Schade. Da hätte mehr drin sein müssen, finde ich. Erst recht, wo doch auch Marion Poschmanns „Die Kieferninseln“ nominiert gewesen war – das nach der Lektüre von „Die Hauptstadt“ in meinen Augen allemal der würdigerer Preisträger für den Deutschen Buchpreis gewesen wäre.
Jetzt bin ich jedoch gespannt, wie Hermann Schmidt-Rahmer daraus ein Theaterstück machen will, das dann im Herbst in Essen uraufgeführt werden soll: was wird da wohl aus dem auktorialen Erzähler? Was geschieht mit all den Innenansichten, die dieser im Roman vermittelt? Wie viele Züge wird es auf der Bühne geben? Und wer spielt das Schwein? 😉