Seltsames und Sonderbares

Alles andere als alltäglich sind die Verbrechen, die die PCU – Peculiar Crimes Unit – in London aufzuklären hat. Alles andere als gewöhnlich ist der Stil von Christopher Fowler, der sie erfunden hat: die Krimiserie um das Ermittlerduo Bryant & May. Die es schon seit geraumer Zeit gibt, doch für mich war „Strange Tide“ aus dem Jahr 2016 meine Erstbegegnung mit ihnen …

Ich könnte jetzt viele Worte machen über den Fall, der darin verhandelt wird. Oder mich darüber verbreiten, wie genial ich es finde, dass Fowler diese sehr spezielle Spezialeinheit, die es stets mit Verbrechen zu tun hat, die die Londoner und der Rest der Briten ‚beunruhigend‘ finden könnten, zwischen all die real existierenden Polizeiuntergruppen, mitten hinein in die ungemein detail- und kenntnisreich geschilderte Hauptstadt des Königreichs gepackt hat und ihr auch noch teils höchst obskure Ermittlungsmethoden (ich sag nur weiße Hexen und Visionen …) unterschiebt. Und all das, ohne dass dadurch das Ganze zu Phantasy würde. Nein, vielmehr ist es so, als ziehe Fowler mitten in unsere mal schnöde, mal schräge Wirklichkeit einfach noch ein paar Ebenen mehr ein.

Aber ich schätze mal, darüber haben schon genug andere geschrieben und ich bin gewiss nicht die einzige Schreibende, die sich wünscht, ja vorgenommen hat, den zugleich gewissenhaften wie lockeren Umgang mit dem, was man zwischen zwei Buchdeckeln für gewöhnlich als normal und realistisch ansieht, ebenfalls zu erlernen – einfach um mehr Raum zu schaffen für die Fantasie, sich eben selbst zu befreien. Doch darum geht es mir eigentlich gar nicht. Darüber an dieser Stelle zu spekulieren erschiene mir ungefähr so müßig, wie den wild verschlungenen Plot samt Bryants exzellenten, psychedelisch anmutenden Visionen nachzeichnen zu wollen.

Was micht wirklich zutiefst begeistert oder meinethalben auch obendrein, ist Fowlers Spache und Humor:

Bryant had gone to the toilet during a talk on the Würzburg Witch Trial of 1626 and had taken the wrong door back, only to find himself attending a Punjabi wedding. It was not the first time he had made such a mistake, and not the worst, which was erronosly projecting a film entitled „Autopsies: What Can Go Wrong?“ to a darkened classroom full of terrified toddlers.

(Strange Tide, p. 188)

Was für eine Vorstellung – und was für ein Film Kopf oder eben gleich mehrere von der Sorte! Nicht minder typisch für Fowler und dabei herausragend geschrieben sind seine Ausflüge in die Geschichte Londons:

In the seventeenth century, Nine Elms still had its eponymous riverside trees. The area was swampic and myasmis during high tides, when the Thames overflowed into it. The marshes were drained and filled with stones and factories; a gasworks and a locomotive depot arrived, remaining until they attracted the attention of German bombers. Now, after decades of derelection, the area was starting to rise into something approaching cohesion. Covent Garden Market relocated here, Battersea Power Station was restored (albeit for the pleasure of the wealthy 1 per cent) and the American Ambassy was building a moated fortress at its riverbank. But for the time being there were still ugly, desolate pockets beyond the reach or the interest of pedestrians.

(Strange Tide, p. 171)

Vorwärts und rückwärts in der Zeit bewegt sich der Erzähler, eine wunderbare, moderne Ausgabe des auktorialen Erzählers, allwissend wie bei Dickens (der selbst einen verrückt-schönen Cameo-Auftritt in der Geschichte hat), genauso scharf unsere wie vergangene Gesellschaften in den Blick nehmend. Und zugleich kann Fowler Dialoge, brillante, wunderschöne, humorvolle solche.

„You’re sure he’s OK?“ asked John May. He had been leaving the PCU when the call came through.

„I think he’s fine,“ sad Alma Sorrowbridge. „He found his way back all right but he’s a little confused. It was another hallucination. He says he thought he was in the Blitz.“

„But he’s all right now?“

„He’s just put away two slices of ginger sultana cake and a pint of tea so I think he’ll live,“ said Alam, „but you really can’t let him go wandering again.“

„It’s my fault,“ May admitted. „We had a bit of a miscommunication here. Keep him there, can you? Lock him in the room if necessary. Call me if there’s a problem. I’ll be there in the morning as ususal to bring him to the unit. He’ll drive you mad if I don’t.“

„He’s driving me mad right now. I’m going to tell him to turn down those Vera Lynn records. We’ve had ‚Bluebirds over the White Cliffs of Dover‘ four times in a row, and before that ‚London Bridge is Falling Down.'“

(Strange Tide, p. 170 f)

Keine Ahnung, wer Vera Lynn ist, aber ich wollte sofort nachhören, was Bryant da hört, genau wie dieses Buch Sehnsucht macht nach London, aber dann an der Seite von Christopher Fowler, den man sich nach der Lektüre als perfekten Begleiter durch die Stadt an der Themse bei jeder Gezeitenlage vorstellt …

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