Ein ungewöhnliches Buch mit wunderbar absurden Aspekten und einer Sprache, die auf angenehme Weise Distanz hält zu den Figuren, ohne sie dabei zu verraten, das ist Marion Poschmanns Roman „Die Kieferninseln“ für mich, der 2017 bei Suhrkamp erschien und sehr verdient auf der Buchpreis-Shortliste landete.
Wo soll ich anfangen mit meiner Begeisterung für dieses Buch? Eine an sich ganz zeitgenössische, ’normale‘ Figur, den Privatdozenten Gilbert Silvester, durch einen Traum aus seinem drittmittelfinanzierten, mittelmäßigen Akademikerleben in Deutschland nach Japan zu katapultieren, das ist schon mal ein herrlich ver-rückter Anfang. Man muss die Figur nicht mögen, um die Erzählung zu lieben – eine bemerkenswerte Herangehensweise, die für mich vollkommen aufgeht.
Gilbert, den Kaffeetrinker ins Teeland zu schicken, weil er der geträumten Untreue der Gattin Mathilda nur mit einem Interkontinentalflug entkommen kann, das hat was. Und dass er als Akademiker zwar der Ansicht sein mag, er könne mit Japan nichts anfangen, sich aber sogleich in Tokyo am Flughafen mit japanischer Literatur eindeckt (auf Englisch übersetzt, natürlich), um dann eine klassische Literatenpilgerfahrt nachahmen zu wollen, die ihrerseits bereits ein Nachreisen darstellt, das scheint mir als akademisch gebildeter Frau, die somit zwangsläufig genug männliche Unineuorotiker aller Art im Lauf der Zeit traf, so absurd wie zugleich auch realistisch.
Dass der aus der Bahn geworfene, mittelalte Deutsche sogleich den jungen Japaner Yosa rettet, der sich wegen zukünftig möglichem Scheitern vorsorglich vor die Bahn werfen will, und mit ihm gemeinsam auf die (Pilger)Reise geht, ist so tragikkomisch wie elegant. Dabei ist der Text an sich ein Mosaik aus diversen Textsorten – Erzählpassagen angelehnt an Gilberts Erleben wechseln sich ab mit seinen Briefen an Mathilda, mit Auszügen bzw, Zusammenfassungen aus den japanischen Reisebeschreibungen und Haikus. Mit bewundernswert leichter Hand schafft die Lyrikern Poschmann aus all dem ein Ganzes, ohne die Brüche und Übergänge zuzukleistern. Knapp und präzise ist ihre Prosa dabei:
Sie saßen im Zug, draußen zog die Landschaft vorüber, die sie nicht durchwanderten, aber doch durchquerten. Eine Station nach der anderen ließen sie hinter sich. Regloses Reisen, handeln, als handele man nicht. Oder ein dumpfes, ohnmächtiges Dahintreiben, wie abgerissenes Laub im Wind.
(S. 112)
Nichts ist daran überflüssig, doch die Bilder, die evoziert werden, sind für mich stark und packend. Dann wieder wechselt Poschmann Fluss und Tempo der Sprache, plötzlich mäandern die Begriffe, verschwimmen die Bilder, sehr passend zum Inhalt der Textpassage, wie etwa diesem Auszug aus einem Brief Gilberts an Mathilda:
Ein Itinerarium müßte die Schwarzkiefer aus der Leere, die allem zugrunde liegt, so hervortreten lassen, daß man die Kiefer vor Augen sieht und auch ihre unendliche Verzweigung, die wieder in der Leere mündet, es müßte den abstrakten Begriff der Leere so mit Bildern anreichern, daß ein sinnlicher Zugang zu ihm möglich würde. Wachträume, Bilder, die kurz vor dem Einschlafen auftauchen, wenn die Denkfunktion allmählich zur Ruhe kommt, Bilder, die das Bewußtsein noch beim Erwachen begleiten, kurz bevor das alltägliche Funktionieren wieder einsetzt, hypnopompe Halluzinationen, die dann auftauchen, wenn sich ein Gedanke vollkommen in Bilder verwandelt hat, die in einen Gedanken in seinem vorbegrifflichen, unbegriffenen Zustand zeigen, bevor die Synthesis einsetzt, Bilder also, die alle meine Vorstellungen müssen begleiten können, auch wenn es nicht jedem gelingt, sie im halbwachen Zustand aus dem nur halben Bewußten hervorzulocken.
(S. 154)
Kein Wunder, dass sich Gilbert im weiteren Verlauf des Briefes fragt, was dahinter steckt, Traum, Wahrheit oder Wahn, genau wie der Leser sich fragen mag, was ist tatsächlich mit Gilbert los und wie real ist eigentlich, vor allem, dieser Yosa, der sich umbringen will, bloß weil er im Leben an Erwartungen scheitern könnte? Aber das ist alles nicht wichtig, finde ich, viel besser und schöner (und damit im Sinne Goethes wahrer ;-)) ist es, sich auf Poschmanns Erzählung ein- und von ihr bezaubern zu lassen.
Auch, wenn dies vielleicht kein Text für jedermann ist; wenn dieser novellenhafte Roman sich gewiss mit Bezug zu universitärem Leben und Interesse für japanische Kultur leichter liest – für mich hat das Werk nur einen ‚Fehler‘: seine Kürze. Und die ist natürlich gewollt und richtig, Poschmann scheint mir nah an dem Kunstideal, das Perfektion für den Zustand postuliert, in dem man weder etwas hinzufügen noch wegnehmen kann, ohne etwas Wesentliches nachteilig zu verändern.