Anders lesen I

Es gibt von jedem Werk so viele Deutungen, wie es Rezepienten hat – so ließe sich die quantitative Bandbreite der Leserperspektiven beschreiben. Aber was ist mit den unterschiedlichen Blickwinkeln, aus denen ich Bücher lesen kann: rein aus Spaß an der Freude, als Literaturdozentin auf der Suche nach Material,  als Lektorin mit professionellem Blick oder auch als Jurorin auf der Suche nach ‚dem besten Werk in Kontext XYZ“, um nur einige zu nennen. Und vor allem: wie soll ich die Perspektive nennen, aus der ich Bücher lese, an deren Entstehung ich als Coach beteiligt war? Christiane Dieckerhoffs Spreewaldgrab und Anja Marschalls Tod am Nord-Ostsee-Kanal warfen diese Frage auf.

Eigentlich lese ich keine dezidierten Regionalkrimis und auch historische Kriminalromane gehören nicht zu meiner bevorzugten, privaten Lektüre – unter anderem, weil Krimis generell das Genre sind, mit dem ich auf die eine oder andere Art professionell wohl am häufigsten zu tun habe. Naheliegend, dass ich in meiner Freizeit (sofern man die bei Autorinnen sauber von der Arbeit trennen kann …) schon allein der Abwechslung wegen zu anderen Arten von Literatur greife.

Insofern hat Bücher zu lesen, die mir während ihrer Entstehung in einem Coaching begegneten, eine gewisse Parallele zum Lesen im Rahmen einer Literaturjury: nicht ich suche mir diese Bücher aus, vielmehr suchen sie mich aus, kommen sie quasi ohne mein Zutun zu mir. Bei Jurybüchern stellte ich wiederholt fest, dass mir Werke Freude bereiten, die ich aufgrund von Äußerlichkeiten wie Titel, Cover oder Klappentext im Buchladen nicht mit der Kneifzange angefasst hätte. Ähnlich hätte ich ‚freiwillig‘ kaum einen historischen Kriminalroman aus dem Regal gezogen – und somit Tod im Nord-Ostsee-Kanal verpasst, den ich nicht nur jedem Fan des Genres empfehlen würde, sondern an dem ich selbst auch eine Menge Spaß hatte.

Eine Besonderheit beim Lesen beider Bücher bestand darin, dass ich durch das jeweilige Coaching mit einem bestimmten Vorwissen an die Geschichten heranging, was eine Art zusätzlicher Spannungsebene in den Leseprozess brachte – und womit ich mich teils selbst aufs Glatteis führte. So überraschte mich im Spreewaldgrab die spröde Staatsanwältin Demeter im ersten Moment sehr, hatte ich sie doch im Tutorium eines ganz anderen Stoffes von Christiane Dieckerhoff kennengelernt, bevor die findige und beneidenswert fleißige Autorin die Figur nach Lübbenau versetzte.

Ganz markant trat für mich die Diskrepanz zwischen meinen Erwartungen aus dem Entstehungsprozess und dem Lesen der tatsächlichen Bücher auf der Ebene der Erzählung selbst zutage. In Coachings dreht sich viel um den Plot, wahlweise um den Gesamtaufbau oder sehr begrenzte Detailfragen. Es ist ja kein Lektorat, wo ich einen zu überarbeitenden, konkreten Text vor mir habe. Das lässt viel Luft für eigene Vorstellungen, derer man sich oft gar nicht bewusst ist, wie ich bei diesen besonderen Lektüren bemerkte.

Meine Perspektive wird dadurch sehr eigen, womöglich gar einzigartig: Ähnlich, wie kaum ein anderer Leser über Staatsanwältin Demeter in Lübbenau stolpern wird (wohin sie wunderbar passt), wird kaum jemand bei der Lektüre von Anja Marschalls zweitem Hauke-Roman überrascht sein, dass dieser nicht personal ausschließlich aus Haukes Sicht, sondern tendenziell auktorial erzählt wird. Das ergibt einen aparten und zugleich stimmigen Kontrast zu den  realen Zitaten aus der Kieler Zeitung aus dem Jahr 1894, dem Jahr, in dem auch der Roman spielt – und rein literaturgeschichtlich macht es zudem Sinn, mit einem auktorialen Erzähler zu arbeiten, da dieser u.a. im 19. Jahrhundert eine Hochzeit erlebte.

Bei Spreewaldgrab hatte ich zwar mit einem Wechsel zwischen verschiedenen personalen Erzählern gerechnet, mir aber zugleich vorgestellt, dass sich die Erzählung stärker auf die Serienheldin Klaudia Wagner konzentrieren würde, die in dem Buch eingeführt wird. Was auch meinen Wunsch spiegelt, noch mehr von ihr zu erfahren und ihrem Leben mit Morbus Menier – und nichts ist, was Fans von gut gemachten Kriminalromanen und Thrillern, die gebrochene Ermittlerfiguren mit eigenen Geschichten und eben auch Perspektiven lieben, vom Lesen abhalten sollte. 🙂

 

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