Die Kunst des Geheimnisses

Ich fürchte, abgesehen von der Tatsache, dass ich sie zufälligerweise nacheinander las und sie beide in einer Hauptstadt spielen, gibt es keine Verbindung zwischen Sarah Kuttners Erfolgsroman Wachstumsschmerz und  Im Café der verlorenen Jugend von Novelpreisträger Patrick Modiano.

Luise ist zwar dreißig, doch deswegen noch längst nicht erwachsen. Vielmehr hängt sie in irgendeinem Berliner Beziehungsniemandsland herum, indem sie bestenfalls spielt, erwachsen zu sein. Bis sie in eine Beziehungskrise gerät und der Liebesschmerz ihr – man möchte fast sagen: endlich – mal sowas wie ein existenzielles Gefühl gibt, an dem sie sich abarbeiten kann. Denn die Memos, in denen sie versucht, die Wortlosigkeit des Schmerzes zu überwinden, sind wirklich gut.

Leider machen sie nur geschätzte 5 Prozent des Romans aus. Der Rest dagegen ist ausgesprochen verzichtbar – wobei das Problem nicht zuletzt darin liegt, dass Kuttner Luise alles, aber auch wirklich alles aussprechen lässt. Sie plappert vor sich hin wie ein Kind, das gerade gelernt hat, in ganzen Sätzen zu sprechen und nun gar nicht mehr davon lassen kann. So entsteht ein Haufen Text, aber keine Erzählung, schon gar keine Literatur im tieferen Sinn. Wenn alles ausgesprochen wird, fehlt am Ende die Tiefe, das Geheimnis, der Raum des Unausgesprochenen – wenn alles gesagt wird, bleibt alles oberflächlich,

In Modianos kurzem Roman dagegen kommen vier Ich-Erzähler mit ganz unterschiedlichen Stimmen zu Wort, und zwischen ihnen liegt nich nur ein ganzes Beziehungsgeflecht, sondern es entsteht ein Netz aus Sprache, dass das Paris vergangener Jahre einfängt. Laut Klappentext sind es die frühen Sechziger, und dahinter, darunter sind noch immer die Wunden des Zweiten Weltkriegs, ist noch immer das Trauma hinter der scheinbaren Normalität zu spüren. Gerade weil die Erzählung der Geschichte und vor allem Louki, der geheimnisvollen jungen Frau in ihrem Zentrum, das Geheimnis belässt, gar nicht erst versucht, sie bis ins Letzte zu ergründen, bleibt sie voller Spannung, öffnet sich für den Leser der Raum, in dem Modianos Kunst nachhallen kann. Wo Kuttner ganz Oberfläche ist, schafft Modiano mit wenigen Strichen ein Wortgemälde voller Tiefe und nuacenreichen Beobachtungen.

Während er also mit Kunst das Geheimnis und damit den Leser bannt, textet Kuttner ihn zu. Und das einzige Geheimnis an ihrem Roman ist für mich: Wie hat Jelena Ivanovic es nur geschafft, sich durch all das Gelaber zu lesen, um dann darin den höchst verdichteten und berührenden Kern für ihre Inszenierung/Choreografie „nicht brennen“ zu finden?

 

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