Zwiespältig, mehrdeutig

Es kommt selten vor, dass ich ein Buch auslese, und nichts darüber schreibe. Auf Toward a Recognition of Androgyny von Carolyn G. Heilbrun habe ich Monate gewartet – es ist vergriffen und nicht leicht aufzutreiben -, dann lag es ewig auf meinem Lesestapel, weil das Seminar, für das ich es ursprünglich haben wollte, längst gelaufen war. Endlich kam ich dazu, es zu lesen, las es auch gerne, aber um darüber zu schreiben, brauchte es erneut Wochen: Ist das so eine zwiespältige Angelegenheit mit der Androgynität?

Ja und nein. Nein, weil mir Androgynität, also die Mischung ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ Charakteristiken bzw. deren Auftreten in einer Person, eigentlich vom Wesen her als völlig selbstverständlich und normal erscheint. Abgesehen vom Kinderkriegen und Zielpinkeln im Stehen ohne Hilfsmittel wüsste ich nicht, warum ich irgendwelche Eigenschaften, Fähigkeiten, Vorlieben oder dergleichen nun zwanghaft dem einen oder anderem Geschlecht zuordnen sollte. Insofern ist Androgynität an sich wie auch Heilbruns Versuch, eine Art Geschichte der Androgynität in (westlicher) Kultur und Literatur nachzuzeichnen, alles andere als zwiespältig für mich. Es war interessant zu lesen, wie sie unter diesem Blickwinkel von den Klassikern der Antike über die Anfänge des Romans bis hin zur Bloomsbury Group um Virginia Woolf (der sie ein ganzes Kapitel widmet) so etwas wie Traditionslinien etabliert, über die ich bislang so noch gar nicht nachgedacht hatte.

Zugleich ist dieses kluge, essayistische Buch aber auch ein Zeitdokument aus der Frühzeit des modernen Feminismus. Es entstammt so deutlich den 70er Jahren, und so vieles, was zu dem Zeitpunkt offenbar geradezu unerhört war – wie der Gedanke der Androgynität, der später in abgewandelter Form über die Genderforschung Eingang ins akademische Denken fand -, ist heute geradezu alltäglich. Androgynität des Äußeren scheint z.B. gerade in der Mode und unter Models immer wieder bevorzugt.

Gewiss, so lange sich Menschen wie die Mitglieder der AFD finden, die von Genderwahn reden und drauf bestehen, dass Männer und Frauen gewissermaßen grundverschiedene ‚Klassen‘ sind, ist dies eine nur äußerliche Anerkennung der Androgynität. Und die heftigen Reaktionen etwa auf Conchita Wursts Sieg beim Eurovision Song Contest spricht Bände.

Und da wird dann die Androgynität bzw. vor allem deren Nicht/Anerkennung doch wieder zu einer zwiespältigen Angelegenheit, selbst, wenn dies auf eine Art geschieht, die Heilbrun so vermutlich nicht vorhergesehen hat und bei der ich nicht weiß, wie damit umgehen. Woraufhin ich sie meist ignoriere (man kann sich ja auch nicht dauernd über Dummheiten ärgern ;-)) und darüber vergesse, über meine Lektüre zu schreiben …

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