Thomas Glavinics Roman Die Arbeit der Nacht ist weder das erste noch einzige erzählerische Werk, das sich mit der Frage auseinandersetzt, was wäre, wenn man plötzlich der letzte Mensch auf Erden wäre? Auch in dem neuseeländischen Spielfilm Quiet Earth (1985) erwacht ein Mann eines Morgens und ist allein in seiner Welt, während sich in Marlen Haushofers Roman Die Wand (1963) eine Frau durch eine gläserne Wand plötzlich abgeschnitten von allen andern Menschen auf einer Almhütte gefangen sieht. Doch Glavinics Roman ist die mit Abstand konsequenteste Auseinandersetzung mit dem Thema.
Glavinic löst nichts auf. Weder Jonas noch der Leser erfährt, was wirklich passiert ist mit all den Menschen und Tieren. Und sie bleiben auch fort, anders als etwa in Quiet Earth, wo es weitere Überlebende gibt, die das globalen Experiment überstanden, weil sie genau in dem Moment starben bzw. eigentlich gestorben wären. Haushofer bietet zwar keine Erklärung für die urplötzliche Existenz der Wand und damit der Abgeschiedenheit der Protagonistin an, doch diese bleibt dank der Tiere in einem zwar rudimentären, aber dennoch existenziellen Dialog, wo es bei Glavinic nur Monolog, Leere oder Wahnsinn gibt.
Natürlich versucht auch Jonas sich bemerkbar zu machen, er schreibt ein riesiges „Hilfe“ auf den Wiener Rathausplatz und hinterlässt an allen Orten, die er besucht, einen Hinweis à la „Jonas, 7. August“. Ob er das Handy seiner Geliebten, die Verwandte in England besucht, mit Anrufen und Kurznachrichten bombardiert, an Tankstellen, in Hotels, Einkaufszentren oder anderswo seinen Namen und seine Nummer hinterlässt – nie kommt etwas zurück. Kein anderer Mensch meldet sich.
Zumindest keiner, der nicht seinen Körper teilte. Denn als Jonas in seiner Verzweiflung beginnt, nicht nur alle möglichen Orte im Außen zu filmen, sondern die Videokameras des Nachts auf sich selbst richtet, macht er eine unheimliche Entdeckung: nachts liegt er nicht etwa friedlich im Bett, sondern er wird zum Schläfer. Diese Nachtversion seiner selbst starrt in die Kamera mit Augen, die er nicht als die seinen wiedererkennt, statt zu schlafen. Er schlägt eine Klinge so tief in die Wand, dass Jonas sie tags drauf mit Werkzeug nicht lösen kann. Manchmal verschwindet der Schläfer einfach aus dem Bild und Jonas weiß erst recht nicht, was geschieht. Zunehmend wird das Überleben eine Frage des Ringens um Kontrolle zwischen diesen beiden Seiten, die doch untrennbar miteinander verbunden sind.
Wobei es Glavinic klug vermeidet, Stellung zu beziehen, gar zu erklären: Sehen wir Jonas dabei zu, wie er mehr und mehr in den Wahnsinn entgleitet? Heißt das, jeder Mensch, der sich in seiner Situation befände, könnte gar nicht anders, als den Verstand verlieren? Oder zeigt sich in der absoluten Einsamkeit bloß das, was sonst auch da ist – immer und überall, in jedem von uns – aber keinen Platz im Gewimmel des Lebens hat? Zerbröseln wir selbst, wenn wir kein Gegenüber mehr haben, wenn es kein Miteinander mehr gibt, in dem sich Identitäten spiegeln und Lebensgeschichen erzählen lassen? Oder trägt Jonas mit all seinen Ängsten, die im Verlauf der Handlung immer wieder aufbrechen und ihn umtreiben, einen besonderen Hang zum Wahn in sich, so dass seine Geschichte doch nicht verallgemeinerbar ist?
Dem Leser geht es ein wenig wie Jonas, der ganz allein die Handlung des Romans trägt, als einziger noch da ist zu denken, zu fühlen, zu sehen, zu handeln. Es gibt keinen Blick auf ihn von außen, nichts, was das Mit-Erleben der Extremsituation in der Draufsicht relativieren würde. Die Sicht des Schläfers lernen wir nie kennen, er wird nur sichtbar in den Spuren, die Jonas von ihm findet – wobei auch dessen Handlungen im Verlauf des Romans auch immer häufiger irrational und nicht mehr nachvollziehbar, wenngleich nicht so extrem wie die seines Nacht-Ichs werden.
Und das Ende – nein, das wird nicht verraten – nun, das Ende ist nichts als die letzte Konsequenz des Gedankens, der mit dem ersten Satz begann … als hätte Glavinic seinen Protagonisten auf die Sehne seiner Grundidee gespannt, ihn abgeschossen wie einen Pfeil und nach einer 400seitigen, labyrinthischen Odyssee haarscharf ins Schwarze getroffen.
Ein solches Werk erfordert Mut und Können und ich kann nur sagen: Chapeau!