Weiße Verzweiflung

Ein weißes Labyrinth auf einer Schräge, das enge Grenzen setzt, aber auch kleine Räume schafft – so hat sich Andreas Jander das südrussische Dorf vorgestellt, in dem Mendel Singer (Tom Gerber) mit seiner Familie stets am Rand der Verzweiflung lebt: Seinen Söhnen Jonas (Tobias Roth) und Schermajah (Jens Ochlast) droht der Militärdienst, Tochter Mirjam (Annika Martens) hurt mit Kosaken herum und dem behinderten Menuchim (Johann David Talinski) kann ohnehin nur ein Wunder helfen. Das ist die Ausgangslage von Joseph Roths Roman Hiob, der Vorlage von Koen Tachelets Stück, das gestern im Essener Grillo-Theater Premiere hatte.

Regisseur Wolfgang Engel macht daraus so etwas wie symbolisches Theater. In der weißen Kargheit wird jeder Gegenstand zum übermächtigen Bedeutungsträger – wie etwa der Kinderwagen, in den Mutter Deborah (Bettina Schmidt) den behinderten Sohn stopft – und jede Geste eine große Sache. Das erzeugt manchmal große Bilder der Verzweiflung wie Momente der Hoffnung, führt aber häufig auch zu eigenartigen Holprigkeiten: Wieso scheucht ein Fliegeralarm oder doch Flugzeuglärms Mendels Schüler auf, wenn die Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg spielt? Wollte Engel hier ein drohendes Judenprogrom andeuten – aber warum wählte er dann dieses Mittel?

Vielleicht passt er damit zu seinen Protagonisten. Jonas flüchtet sich zum Militär des Zaren, will sein Jüdischsein ablegen, während Schermarjah vor dem Militärdienst nach Amerika flieht und dort als Sam sein Glück macht. Doch die Eltern samt Mirjam nachzuholen, bringt Mendel kein Glück. Das bunte Lichtermeer über der weißen Schräge irritiert ihn und am Ende wird Amerika doch nur wieder zum engen Labyrinth, bloß dass ihn hier nach dem Tod von Sam und Deborah dann auch noch das Heimweh plagt. Ob er wirklich nach Hause oder gar zurück zu Gott findet, wenn Menuchim, wundersam geheilt am Ende mit seiner Klezmer-Band zu ihm kommt und er inmitten der wilden Musik stirbt? Wer weiß.

Ich weiß ja nicht mal, was die Dopplung der USA-Ankunftsszene vor und nach der Pause sollte. Oder warum Mendels jüdische Nachbarn in New York unter ihren Riesenhüten im Chor überwiegend offensichtliches erzählen. So gern ich Stefan Diekmann in all seinen verschiedenen Rollen zugesehen habe, so sehr mich auch der Stoff zum Denken angeregt hat (wie das Stück sich wohl darstellt, wenn man selbst der jüdischen Kultur entstammt?), im Grunde genommen bleibt für mich das ganze ein ungelöster Widerspruch aus radikaler Reduktion und bedeutungsschwangerer Aufladung.

Anders gesagt: So grandios und überzeugend Johann David Talinski als nackter, sprachloser, krampfender Krüppel Menuchim ist, so wenig glaubhaft ist er, wenn er am Ende als strahlender Held zurückkehrt und – spricht. Und das ist für mich leider das treffendste Bild, auf das dieser an sich hochinteressante Abend am Ende zuläuft ….

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