Reisen bildet. Lesen auch. Und wo für mich Bücher Reisen in fremde Welten bedeuten, ich aber niemals ohne ein Buch (oder zwei oder drei oder …) zu einer Reise aufbrechen würde, wird es Zeit, den Kanada-Bericht für einen Kanada-Lesebericht plus meinen Eindruck von Mariella Mehrs Steinzeit zu unterbrechen.
Das Buch für den Flug erwies sich leider als durchsichtiger Regionalkrimi, der im ärgerlich schlecht recherchierten Theatermilieu spielte, obwohl er angeblich aus der Feder eines bühnenerfahrenen Menschen stammt – das netteste, was ich darüber sagen kann, ist nichts, also keine Namen oder Titel zu nennen …
Darauf folgte ein mäßiger David Nicholls. Ewig zweiter heißt das Ding, und das trifft es. Nicht jeder Brite kann wirklich gut komisch oder ironisch schreiben, das ist eine Erkenntnis des Buches. Mag an der Übersetzung ins Deutsche gelegen haben, ich weiß es nicht, aber die Geschichte von Stephen McQueen, einem zweitklassigen Schauspieler mit übergroßem Namen (der auch noch auf einen Zufall und keine Absicht der unwissenden Eltern zurückgeht), interessierte mich zu keinem Zeitpunkt in ausreichendem Maß, um in mir den Wunsch wachsen zu lassen, es das nächste Mal doch mit dem Original zu versuchen. Im Gegenteil; eine Freundin lieh mir Keine weiteren Fragen und bei diesem meinem zweiten Nicholls wird abzuwarten sein, ob er mich packt oder lediglich angelesen meinen Bücherstapel verlässt.
Minette Walters The Chameleon’s Shadow war nach dem lektüremäßig miesen Urlaubsauftakt ein echtes Highlight. In meinen Augen knüpft sie damit zwar noch lang nicht wieder an ihre grandiosen ersten drei Romane an, aber man kann wohl von niemand auf Dauer nur geniales verlangen. Dieses Buch ist spannend, lesbar, sie lässt sich auf ihre ungewöhnlichen und alles andere als einfachen Hauptfiguren vom Rand der Gesellschaft ein – diesmal: ein entstellter Armeeoffizier, der im Irak fast zu Tode kam; Dr. Butch, d.h. eine Ärztin mit einer Vorliebe für Frauen und ebenso ausgeprägten Arnie-Muskeln – und sie erzählt gekonnt. Da stört es nicht, dass mir ein wenig zu früh die Auflösung klar wurde, denn so arg auf den Überraschungsmoment setzt Mrs. Walters ja nun doch nicht. Fazit: Spannende Urlaubslektüre, die ich jedoch in dem B&B in Ottawa zurückließ, wo ich sie beendete.
Mary Lawsons Crow Lake hab ich in Midland in einem wunderbaren Buchladen (der allein wäre ein Grund, nach einem Lottogewinn dorthin zu ziehen) gekauft und nach der Lektüre brav quer übern Ozean geschleppt. Dabei dachte ich bislang, Familiengeschichten wären nicht mein Ding … aber diese im hohen Norden Ontarios angesiedelte werd ich bestimmt irgendwann ein zweites Mal lesen und mich dann ans erste Lesen auf Reisen in Kanada erinnern …
Ebenfalls unbedingt des Erinnerns wert ist Jeanette Wintersons Written on the body, ein Roman, auf den mich eine narratologische Untersuchung brachte, die ich zur Vorbereitung meines aktuellen Uniseminars las. Reizvoll wird dieser Roman durch die ungewöhnliche Perspektive eines geschlechtsneutralen Erzählers. Was es nicht ganz trifft – das erzählende Ich ist ein sexuell höchst aktives, aber ebenso ambivalentes Wesen auf der Suche nach seiner/ihrer großen Liebe. Die Erzählwissenschaftlerin empfand die Unbestimmtheit anscheinend irritierend – für mich fühlte sich diese Erzählung erstaunlich natürlich oder doch nah an meinem Empfinden an. Was vermutlich mehr über mich als über das Buch sagt … sollten hier weitere Winterson-LeserInnen mitlesen, ich freu mich über Kommentare, Beobachtungen etc.!
Auf dem Rückflug – Montreal-München, München-Düsseldorf – hab ich gleich zwei Bücher verschlungen. Das Reich der Blinden von Philip Jowolicz hat mich nicht überzeugt. Wieso mich die Geschichte eines Anwalts und Finanzexperten interessieren sollte, der unschuldig ins Kreuzfeuer der Kritik gerät, hab ich nicht ergründen können. Immerhin war die Geschichte leidlich spannend, man lernt ein bisschen über die (US)Pharmaindustrie und über Japan, aber das allein ist für 450 Seiten ein bisschen mager.
Dann doch lieber, sehr viel lieber Nach dem Regen von Jon McGregor. Ein Roman wie der Blick durch ein Kaleidsokop, eine Art Miniaturengalerie, das hat was. Anfangs nervte mich das aufdringliche Präsens etwas – im Präsens statt im Perfekt zu erzählen, das ist für viele ein modischer Tabubruch, bloß in meinen Augen ist dieses Tabu schon so durchlöchert, dass Präsenserzählungen inzwischen einfach eine andere Form, fast schon einen neue Konvention darstellen -, aber die Geschichte und McGregors genaue Beobachtungen wie Beschreibungen machen solch geringfügigen Unbill mehr als wett. Schade, dass ich dieses Buch nun, sollte ich es je im englischen Original lesen, schon kennen werde … aber womöglich wäre das bei dieser Geschichte, diesem Mosaik, wo sich Bedeutungen erst allmählich erschließen, dann zaghaft verschieben und schließlich teils erstarren, teils umkippen, erst recht reizvoll?
Ob ich Mariella Mehrs ersten Roman, Steinzeit, ein zweites Mal lesen werde, weiß ich nicht. Eine harte Geschichte und um so härter, als sie wahr ist – die Geschichte einer Jenischen, eines Kindes, das in die Mühlen der grausamen bis nazistisch geprögten Schweizer Erziehungswelt der 1950er und 1960er Jahre gerät. Fast möchte man es nicht glauben, dass den Jenischen in der ach-so-schönen Schweiz ein ganz ähnliches Schicksal bevorstand wie z.B. den Aborigines in Australien oder verschiedenen Indianerstämmen in den USA, wo die weiße Mehrheit sich das Recht nahm, den Ureinwohnern bzw. den "Anderen" ihre Kinder wegzunehmen und per institutionalisierter Erziehung von ihren Wurzeln und im Extremfall ihrer Menschlichkeit zu entfremden.
Für die Schweiz dürfte dieser Extremfall – Vernichtung durch Erziehung respektive institutionalisierte Verwahrung ohne jegliche emotionale Fürsorge dafür mit um so mehr Gewalt (was waren denn Elektroschock- und Insulinbehandlungen anderes?) – die Norm dargestellt haben. Wie es Mariella Mehr geschafft hat, das zu überleben, ist selbst mir ein Rätsel … und mir sind Überlebendengeschichte ja nun mehr als vertraut. Aber was für ein Glück, dass sie überlebte und dass sie ihre Stimme und zugleich die Stimme der Jenischen gefunden hat, selbst wenn die Geschichte, die sie in Steinzeit erzählt, unerträglich grausam ist. Hut ab dafür, dass sie Worte findet, das Unsagbare zu sagen.
Reise- und andere Lektüren
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Wow, wie viele Bücher du in dann doch so kurzer Zeit lesen kannst, haut mich immer wieder um! Ich dümpel schon wieder seit Wochen an einem recht kurzen Roman (Das Attentat) herum. Obwohl es mich echt interessiert, gewinnt dann doch meist die Müdigkeit im Bett… Aber wenigstens höre ich noch auf meinen „ewigen“ Autofahrten tolle Hörbücher. Ich lasse halt gerne lesen…;-) Wie praktisch dafür auch die passende Schwester zu haben 😉
LG Gerli