Man mag es gar nicht glauben, dass Christine Nöstlingers Kinderbuchklassiker Konrad oder das Kind aus der Konservenbüchse bereits 1975 erschien – so aktuell erscheint (nach wie vor? schon wieder?) so vieles an der Geschichte. Und doch ist es vollkommen passend, dass Henner Kallmeyers Inszenierung in der Essener Casa sich ins wildbunte Gewand der 70er hüllt. Viel wichtiger als solche Äußerlichkeiten ist jedoch: Das Stück macht kleinen wie großen Besuchern richtig gute Laune.
Berti Bartolotti (Ingrid Domann) liebt es, Dinge zu bestellen, vor allem solche, die sie nicht wirklich braucht – was nach Amazon, Zalando & Co, klingt, geht hier noch ganz old school per Telefon, führt jedoch zu derselben Unmenge nur teilweise ausgepackter Kartons wie bei einem heutigen Internetkaufrausch (Bühne: Franziska Gebhardt).
Doch als der Postbote (höchst musikalisch: Rezo Tschchickwischwili) Berti unter Aufbietung all seiner Kraft eine gewaltige Konservendose anschleppt, und dieser der überaus brav und folgsam programmierte, siebenjährige Konrad (Silvia Weiskopf) entsteigt, ist sie verunsichert: ein Kind zu bestellen, das hätte sie doch gemerkt. Und was soll eine so liebenswerte wie chaotische Person wie sie mit so einem wohlerzogenen Musterknaben anfangen? Erstmal eine Erstausstattung auf dem Flohmarkt besorgen, der Rest wird sich finden – doch Konrad weiß nur wenig mit all dem Spielzeug anzufangen, und Eis vor dem Abendessen, das geht doch nicht …!
Man fragt sich schon, wie viele Helikoptereltern und solche, die ihren Kindern am liebsten schon im Mutterleib mit Chinesischunterricht Startvorteile für die spätere Karriere verschaffen wollen, sich insgeheim ein Kind wie Konrad wünschten. In der Essener Casa fremdeln Zufallsmutter und artiges Söhnchen aus der Fabrik zunächst, und es sieht glatt so aus, als könnte Konrad mehr mit Bertis spießigem Apothekerfreund Egon (Thomas Büchel) anfangen, der ganz entzückt auf das brave Kind reagiert und sich prompt zum Vater erklärt. Die echte Herausforderung liegt da jedoch noch vor den ungleichen Drei, denn natürlich entpuppt sich das Ganze als ein Lieferfehler. Doch da ist längst Liebe gewachsen und so ist weder Berti noch Egon bereit, den kleinen Konrad wieder gehen lassen. Aber weil die Fabrik alle Vertragstrümpfe in der Hand hat, bleibt nur eines übrig: Konrad muss schleunigst das Bravsein verlernen und seine wilde, kindliche Anarchistenseele entdecken, damit er für die echte Kundin der Konservendosenkinderfabrik uninteressant wird.
Henner Kallmeyer inszeniert die Geschichte mit viel Liebe zum komischen Detail. Ob singender Postbote, tänzelnder Umbauhase oder auch die blauen Herren von der Fabrik, die Konrad mit aller Macht zurückholen wollen – sie alle lassen auf die eine oder andere Art (nicht nur) Kinderherzen höher schlagen. Ingrid Domann sah ich noch nie so lebendig, so frei und mit so viel Spielfreude agieren wie als Berti Bartolotti. Thomas Büchel gibt den Apotheker mit Haut und Haaren als Spießer und ist als himmelblauer Fiesling sächselnd so böse wie im besten Sinne lachhaft. Silvia Weiskopfs Konrad macht dagegen die größte Entwicklung durch – vom ein wenig roboterhaften Musterknaben über den schüchtern-verschüchterten neuen Jungen in Nachbarschaft und Schule bis hin zum kleinen Wilden, da geht eine Menge, und das ist unbedingt sehenswert.
Ich konnte mir jedenfalls nichts Besseres vorstellen, um den ersten Tag in meinem neuen Lebensjahrzehnt zu feiern, als die Premiere von Nöstlingers Kindertstück in Essen zu sehen. 🙂