Heute Abend fehlt mir die Zeit, etwas neues zu schreiben. Deshalb gibt es nur eine Leseprobe – und zwar den Anfang Rhein in Flammen. 2000 erschien dieser mein erster Kurzkrimi bei Emons in der Anthologie „Rheinleichen„, später gab es noch eine ‚Sylvesterversion‘ der Geschichte in der Leporello-Sammlung „Mordsfeste„.
Rhein in Flammen
von Mischa Bach
Ich war seit fünf Minuten da und kämpfte genauso lang mit dem Bedürfnis, wieder abzuhauen. Der Rhein floss träge dahin, angeblich sauberer denn je, aber davon sah ich nichts. Ich sah die Brücke – eine architektonische Scheußlichkeit -, den stillgelegten, grauen Atommeiler, die Fabriken am anderen Flussufer, und schaute sehnsüchtig den Lastkähnen nach, die gemächlich, aber unaufhaltsam der sommerlich-schmalen Fahrrinne Richtung Meer folgten.
„Du hast es versprochen, Gabriel“, sagte sie leise. Ich ignorierte ihre vorwurfsvolle Stimme, starrte weiter aufs Wasser, auf den Fluss. An der großen Treppe unterhalb des Pegelturms legten zwei Achter an. Mir fuhr ein kalter Schauer den Rücken runter, ich konnte dieses Wahrzeichen der Stadt noch nie leiden. Um mich abzulenken, kramte ich im Seesack, der neben mir auf der Deichmauer stand, nach dem Tabak und drehte mir eine Kippe.
„Gabriel, nun mach schon.“ Sie hatte keine Geduld. Für sie musste der Kohlenschipper, mit dem wir damals hier weg sind, die reinste Qual gewesen sein – schnell sind die Dinger wirklich nicht. Mich hatte das nie gekümmert. Solange unter dem Boden, auf dem ich stand, mehr als eine Handbreit Wasser floss, spielte es keine Rolle, wie schnell oder langsam es zu welchem Ziel auch immer vorwärts ging. Ich war schon alles mögliche, was man auf einem Boot sein kann – blinder Passagier, Schiffsjunge, Heizer, Koch, Steward, vorübergehend auch Steuermann und jetzt, das heißt, das nächste Mal, wenn alles gut ging, Skipper. Aber im Grunde war das alles nicht wichtig, wichtig war, auf dem Wasser und in Bewegung zu sein.
„Und warum sitzen wir dann immer noch hier?“ Langsam wurde sie ungemütlich. Okay, konnte ich ja verstehen, für sie ging es um alles oder nichts. Sie hatte jahrelang darauf gewartet und mir seit Monaten damit in den Ohren gelegen. „Gabriel, du musst das für mich tun, alleine kann ich das nicht“, so hatte es angefangen, „erst dann habe ich Ruhe. Und dann bist du frei, ich verspreche es dir, wenn du mir versprichst …“ Seufzend stand ich auf, schulterte den Seesack und ging zur Treppe, um runter zum Ufer, zu den Anlegestellen zu gelangen. Das Restaurant Rheinblick hatte nur blinde Fenster, war schon wieder renovierungsbedürftig, anscheinend waren wir beide nicht das einzig kaputte, was unsere Heimatstadt zu bieten hatte.
Auf der Uferpromenade war es ruhig, nur ein paar Jogger und Spaziergänger zogen ihre Runden. An den Deichtoren wurde zum X-ten Mal gebaut, das würden die Touristen, die heute Abend in Scharen anreisten, nicht mögen. Baustelle bedeutete Absperrung, das bedeutete eingeschränkte Parkmöglichkeiten und weniger Plätze, von denen aus sie sich die Halswirbel ausrenken könnten. Heute Nacht würde es hier vor Menschen nur so wimmeln, die mit „Ahs“ und „Ohs“ in den Himmel starrten, wenn der Rhein in Flammen losging. Und gleich nebenan das romantische Stadtschloss mitsamt ebensolchem Stadtpark, das ließ keine Wünsche offen. Außer vielleicht, dass ich mich schon immer gefragt hatte, wohin die Stricher, deren Revier dieser Teil des Rheinufers sonst war, bei solchen Gelegenheiten auswichen und was sie von dem ganzen Trubel hielten.
Sie hatte auf genau diese Nacht bestanden – krachendes Feuerwerk und eine nichtsahnende, nichtssehende Öffentlichkeit, das war für sie genau der passende Rahmen: „Du hast selbst gesagt, Feuer auf dem Wasser, das ist das schlimmste, was einem passieren kann. Und das, was mir passiert ist, war genauso – Feuer auf Wasser, kein Ausweichen, keine Flucht möglich.“ Wenn sie es so wollte, und es den Job leichter machte, warum nicht, hatte ich mir gedacht. Überhaupt hatte ich versucht, mir keine großen Gedanken über unser Vorhaben zu machen. Es war verrückt, es war riskant, und es war nötig – für sie wie für mich -, das musste reichen.
Die Anlegestelle fand ich schnell, obgleich sie dank der Baustelle ganz ans Ende des Uferstücks gerückt war und damit unmittelbar neben dem Eingang zum Stadtpark lag. Nicht nur das Schiff war auf Hochglanz poliert – die Motorjacht Madeleine, ehemals als kleiner Vergnügungsdampfer genutzt, stritt sich mit den kreischenden Möwen, den Schäfchenwolken und der Persilwerbung um das weißeste Weiß -, selbst die Schilder am Steg blitzten und blinkten: „Betreten auf eigene Gefahr“, „Bei Glätte nicht gestreut“, „Privatbesitz – Betreten verboten“ und schließlich „Rhein in Flammen mit exklusivem Captain’s Dinner – nur für geladene Gäste“. Ich zögerte einen Moment vor dem Gittertor, das den Steg von der Uferpromenade trennte.
„Worauf wartest du“, sagte sie, fast fröhlich, erleichtert wohl, weil jetzt der Anfang vom Ende begann.
[…] aus: Rhein in Flammen, in: Ina Coelen & Ingrid Schmitz (Hrsg.): „Rheinleichen“. Emons 2000.