Wie versprochen geht es nun weiter mit meinen Gedanken über Siri Hustvedts ‚Übungen‘ (so könnte man das Wort Essay ja auch übersetzen), und zwar zu denen aus dem Themenkreis „Thinking.“
Dass das keine reine Kopfsache bleibt bzw. Denken für Hustvedt nichts rein Abstraktes ist, merkt man u.a. daran, dass für sie dabei der Körper durchaus eine Rolle spielt. Los geht es aber erst einmal mit Wahrnehmungen und der Erinnerung bzw. deren Funktion in „The Real Story“, in dem sie sich mit dem Schreiben wie Lesen von Memoiren im Gegensatz zu Romanen befasst und der Frage nachgeht, was liegt dem eigentlich an Denkprozessen zugrunde?
Memory, like perception, is not passive retrieval but an active and creative process that involves the imagination. We are always reinventing our past, but we are not doing it on purpose.
Siri Hustvedt, Living.Thinking. Looking, p. 95
So funktioniert eben unser Erinnerungsvermögen und es ist ohne die Fähigkeit zur Imagination nicht denkbar – wenn ich versuche, mich etwa an ein bestimmtes Ereignis aus meiner Kindheit zu erinnern, dann sind daran dieselben mentalen Prozesse und Hinrareale beteiligt wie etwa beim Erfinden einer Episode aus der Kindheit meiner nächsten Romanheldin.
Writing a memoir is a question of organizing rememberances I believe to be true and not invented into a verbal narrative. And that belief is a matter of inner conviction; what feels true now.
When I’m writing a novel, it is very much like dredging up a memory, trying hard to find the „real“ story that is buried soemwhere in my being, and when I find it, it feels true.
Hustvedt, Living, Thinking, Looking, p. 105
Für mich als Autorin, als Person, die professionell Geschichten erfindet und sich überdies als Coach mit den erfundenen Geschichten anderer Erzählprofis befasst, ist das ein besonders spannender Gedanke: denn während es oft nicht zu übersehen ist, dass eine bestimmte Passage, ein Satz oder eine Szene einfach nicht stimmen, ist es meist nur annäherungsweise und oft gar nicht zu erklären, warum das so ist oder woran es genau festzumachen ist. Und der Gedanke, dass das bei unseren Erinnerungen ähnlich ist, dass sie letztlich vor allem plausibel und stimmig und nicht bewusst erfunden sein müssen, wir aber nur in den seltensten Fällen zweifelsfrei beweisen können, dass etwas genauso gewesen ist, ist faszinierend, auch wenn man ihn beunruhigend nennen könnte.
Ähnlich elektrisierend empfand ich „On Reading“, und das gleich vom ersten Satz an:
Reading is perception as translation. The inert signs of an alphabet become living meanings in the mind. It is all very strange when you think about it, […]
Hustvedt, p. 133
In der Tat: Lesen lässt abstrakte Spuren auf einem Trägermaterial zu Bildern, Geräuschen, Vorstellungen, Gedanken, Geschichten, eben allem nur Denkbaren und Vorstellbaren werden. Das grenzt an ein Wunder, zumindest kommt es mir manchmal so vor. Hustvedt wohl auch, doch sie geht weiter, denkt über das Verhältnis von Lesen und Denken nach:
When I read, I engage my capacity for inner speech. I assume the words of the writer who, for the time being, becomes my own internal narrator, the voice in my head. […] If I am reading critically, my own words will intervene. I will ask, doubt, and wonder, but I cannot occupy both positions at once. I am either reading the book or pausing to reflect on it. Reading is intersubjective – the writer is absent, but his words become part of my inner dialogue.
Hustvedt, p. 134
Aber natürlich sind Bücher mehr als Worte und gerade bei Romanen, bei fiktionalen Erzählungen treten die Worte an sich oftmals hinter ganz anderen Sinneseindrücken zurück, die dort beschrieben werden und nun im Inneren der Leserin ihr eigenes Dasein beginnen. Das passt wiederum zu Hustvedts weiterer Feststellung in diesem Kontext:
Books, of course, are made only of words, but they may be recalled in images, feelings, or in other words.
Hustvedt, p. 136
Dann kann auch aus ihren klugen Überlegungen zur Identität in meinem Kopf das Bild von Katzenstreu werden, was wiederum so ver-rückt ist, dass es möglicherweise die meisten sonstigen Erinnerungen an ihren Essayband überdauert. Und wer weiß, wohin sich dieses Bild noch entwickeln wird, wenn ich weitere Überlegungen Hustvedts zum Thema Erinnerung und Erzählung/Fiktionalisierung hinzu nehme? In „Three Emotional Stories“ geht sie dabei von der Grundüberlegung aus, dass Fiktion zu schreiben sei, als erinnerte man sich an etwas, das nie geschehen ist (p. 175). Aber was passiert, wenn man dabei einen realen, allerdings nurmehr bruchstückhaft erinnerten Krankenhausaufenthalt aus dem eigenen Leben nimmt und in eine fiktionale Episode in einem Roman verwandelt?
The fact, that I used that hospital stay in my first novel, The Blindfold, further complicates matters because I turned an episode from my life into fiction, an episode I had already, no doubt, fictionalized in memory. Both the memory story and the novel were created unconcsiously. Furthermore, I don’t truly recall my twenty-seven-year-old self. I can easily shift the scene and see myself in the third person, a wan, blond yong woman pumped full of Thorazine, staring at the ceiling. The hospital chapter of The Blindfold was turned into a movie, […] My experience in the Mount Sinai in 1982 generated three stories with the same fabula. […] Each one is different, and each one is constructed as a narrative, which partakes of the imaginary, the fictionalizing processes inherent to memories that are reflectively self-conscious.
Hustvedt, p. 182
So viel Erzählen und Erzählung, wie Echokammern, ein inneres Labyrinth möglicher Begebenheiten und Wirklichkeiten. Erfahrungen werden zu Erzählungen, die unsere Erinnerungen ausmachen, und in der Kunst werden solcher Erinnerungserzählungen dann erneut verwandelt, um von den Leserinnen oder dem Kinopublikum wiederum zu eigenen Erinnerungen zu werden, die später womöglich erneut eine weitere Verwandlung erfahren … Denkt man zu lang und zu intensiv darüber nach, könnte einem glatt schwindelig werden. Also setze ich hier lieber den nächsten, vorläufigen Schlusspunkt und hoffe, ich komme morgen dazu, über „Looking“, den letzten großen Teil des Essaybandes, zu schreiben.