Eine bekannte Geschichte mit umgedrehten Vorzeichen zu erzählen, das ist die Prämisse, die „Istanbul“ zugrunde liegt, denn hier zieht ein türkisches Wirtschaftswunder deutsche Arbeitskräfte per Anwerbeabkommen an den Bosporus, wo sie nun ihrerseits auf eine fremde Kultur und Religion und fremde Sprache stoßen. Wie sich hier behaupten, wie im Istanbul der 1960er und 70er Jahre mit der Trennung von Liebsten und Heimat umgehen? Diesen Kampf in 15 Songs der türkischen Popsängerin Sezen Aksu gehüllt erlebt im Essener Grillo-Theater stellvertretend Klaus, der in der Premiere von Roland Riebeling gespielt wurde.
So war es Glück im Unglück, dass er bereits vor sieben Jahren am Schauspiel Bochum in dieser Rolle des Stücks von Selen Kara (Regie), Torsten Kindermann (musikalische Leitung) und Akın Emanuel Şipal (Text & Übersetzung der Songs) auf der Bühne gestanden hatte und so gestern Abend für den erkrankten Stefan Diekmann in Essen einspringen konnte.
Die Bühne ist auch in Essen ein weiter, bunter Raum – teils blaue Moschee, teils Café oder Kneipe, Marktplatz, der mit seinem von Orientteppichen bedeckten Podest und den orientalischen Lampen und Kronleuchtern beinahe märchenhaft anmutet. Dieser Raum will offen sein für die umgedrehte Geschichte und für seine Zuschauer, von denen einige eingeladen sind, an den langen Tischen direkt vor und auf der Bühne Platz zu nehmen und so zum Teil des Geschehens und wohl auch des intendierten Perspektivwechsels zu werden.
Der musikalische Abend beginnt mit einem doppelten Abschied: Erst werden wir Zeuge, wie Klaus von seinen Freunde Ismet (Alican Yücesoy) und Ela (Sümeyra Yilmaz), seiner Tochter Jasmin (Lene Dax) und seiner Frau Luise (Silivia Weiskopf) mit viel Musik, gefühlvollen Reden und einigem Streit zu Grabe getragen werden soll, dann wird seine Lebensgeschichte von Anwerbung und Abschied an in Essen aufgerollt. Anreise und Ankunft in Istanbul wie auch die ersten, einsamen (und kaffeelosen ;-)) Jahre kommen anschließend ausführlich zur Sprache, der Rest, wenn erst Luise und dann „Kofferkind“ Jasmin nachgeholt werden, nurmehr in groben Strichen nachgezeichnet.
Oder vielmehr: besungen, denn hier hat eindeutig die Musik den Vorrang vor dem gesprochenen Wort. Dass man auch als Mensch ohne Türkischkenntnisse deren teils poetischen Texten gut folgen kann, ist der zweisprachigen Übertitelung zu verdanken. Gut anzuhören ist das Ganze ohnehin, dafür sorgen die Musiker:innen Ceren Bozkurt, Torsten Kindermann, Koray Berat Sari und Jan-Sebastian Weichsel gemeinsam mit den allesamt großartig singenden Schauspieler:innen. Das Publikum dankte es jedenfalls immer wieder durch Mitklatschen und Szenenapplaus und am Schluss mit Standing Ovations.
Eine Art Märchen für Erwachsene, so kam es mir vor. Eine hübsche Geschichte, ein unterhaltsamer Abend, der in seiner Neuauflage nach dem, was im Foyer zu hören war, reichlich „Wiederholungszuschauer“ anzog, die ihn bereits in Bochum und womöglich schon in der ersten Auflage am Theater Bremen vor zehn Jahren sahen. Da dürfte der Erfolg garantiert sein, selbst, wenn es laut Programmheft bereits in Bremen von Zuschauern hieß, das Stück hätte schon 30 Jahre früher auf die Bühne gehört und ich den Bezug zum Jetzt heute noch mehr vermisse.