Literaturnotizen mit Abstand (1)

Immer wieder darüber zu klagen, dass ich mich nach wie vor das Leben mit seinen Unwägbarkeiten so in Atem hält, dass ich zum öffentlichen Schreiben nur noch sporadisch komme, bringt ja nichts und niemand weiter … bevor ich aber Gefahr laufe, unter umstürzenden Stapeln ausgelesener Bücher begraben zu werden, schreibe ich doch lieber über die ersten drei davon …

Sechs Bücher, umkippend auf einem Balkontisch vor blauem Sommerhimmel: "Girl, Woman, Other", "Die Erde trägt ein Kleid aus Worten", "A Manual for Cleaning Women", "Die Frau im Tal", "Der Junge" und "Nachlass zu Lebzeiten"

Es kam als Urlaubslektüre in mein Leben und ist ein weiterer Roman, der mich gefangennahm mit seinen Figuren, seiner Erzählweise, seiner Sprache (die mal poetisch knapp, mal journalistisch präzise und zwischendrin wurnderbar ausschweifend ist): Bernardine Evaristo: Girl, Woman, Other , das 2019 einen Booker Price bekam.

Dieser moderne Schnitzler-Reigen feministischer Geschichten wird aus Sicht der unterschiedlichsten Akteurinnen erzählt und eröffnete für mich als bleiche Anglophile aus Deutschland einen neuen, anderen Blick auf Großbritannien aus schwarzer Perspektive. Damit knüpft es an meine Lektüre von The Assembly und Adas Raum an. Besonders reizvoll, fast wie eine Art Bonus ist dabei der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, geht es doch nach Jahrzehnten von Off-Off- und Off-Produktionen um Ammas erster große Theaterpremiere am National Theatre in London, sodass der Höhepunkt der Geschichte für mich als Theatermenschen ein weiterer, aufregender Mix aus Vertrautem und Ungewohntem ist. Ein intelligentes Buch, das definitiv Lust auf Mehr von seiner Autorin macht.

Lucia Berlins A Manual for Cleaning Women ist ein Sammlung von Kurzgeschichten und Erzählungen der Extraklasse, die es absolut verständlich erscheinen lässt, dass Lydia Davies einst (fälschlich) glaubte, wenn sich alle wirklich gute Autoren am Ende durchsetzen, müsste jeder Lucia Berlin kennen. Leider stimmt das nicht, denn ohne den Hinweis von Davies wäre ich persönlich womöglich nie auf Berlin gestoßen, und das wäre ein überaus bedauerlicher Verlust gewesen.

Worum aber geht es in Berlins Geschichten und was ist das Besondere an ihnen – abgesehen davon, dass es für mich auch bei dieser Lektüre spannend war, Vertrautes neu zu sehen, wie etwa ihr Albuquerque aus den 1970ern mit ‚meinem‘ aus den 1990ern zu vergleichen? Wesentlich scheinen mir ihre Figuren, scharf gezeichnet, als betrachte Berlin sie durch ein Brennglas. Ganz genau beobachtet sie sie in ihren alltäglichen und dabei so kennzeichnenden Handlungen, fängt sie selbst mit ihren geheimsten Regungen ein – ob es um grausame Kindheiten oder Liebesgeschichten, um Alkoholiker in den verborgenen Abgründen ihrer Sucht, Geschichten von Armut oder Reichtum, Krankheit und Sterben geht, oder scheinbare Alltagsbeobachtungen etwa einer Putzfrau im Vordergrund stehen.

Wunderbar daran ist, dass ihr das Kunststück gelingt, ehrlich zu sein, auch entlarvend, aber nie abwertend. Ob das daran liegt, dass vielen ihrer Erzählungen Autobiografisches zugrunde liegt, könnte man fragen. Doch für mich geht das an Berlins Ansatz vorbei, denn ihre Art des autobiografischen/autofiktionalen Schreibens ist genau die Art von Schaffensprozess, der aus dem Leben schöpft, um am Ende Kunst und damit etwas allgemeingültiges, Überindividuelles wird.

Gelebtes Leben, das zur Kunst wird, wäre auch eine Überschrift für Beatrix Kramlovskys Erzählband Die Erde trägt ein Kleid aus Worten, in dem die Wiener Autorin und Malerin uns Lesende mit auf die Reisen ihres Lebens nimmt. Auf vier Kontinenten hat sie gelebt, ist viel gereist und noch mehr Menschen begegnet, wach und voller Neugier. Man spürt den Blick der bildenden Künstlerin, die unter den unterschiedlichsten Bedingungen Freundschaften knüpft und pflegt.

Da ich Beatrix Kramlovsky nicht nur als Kollegin schätze, sondern wir darüberhinaus befreundet sind, war für mich das Besondere an diesem Buch die Entdeckung unser beider Erfahrungen mit der (ehemaligen) DDR – wobei ihre aus den Jahren 1987 bis 1989, als sie mit ihrer Familie dort lebte, also auch den „realexistierenden Sozialismus“ samt heimlichen wie offenem Protest bis hin zum Mauerfall natürlich viel spannender und eindrücklicher sind als meine mit Filmschaffenden aus der Zeit unmittelbar nach der Wende, als meine ersten Drehbücher vom MDR verfilmt wurden. Zum Niederknien ist jedoch, wie in so ziemlich allem, was ich je von Trixie las, ist ihre Art der teilnehmenden Beobachtung und ihr ganz eigene, poetisch-präzise Sprache. So heißt es etwa in einem Eintrag aus den Berliner Tagebüchern im Winter 1988:

In den Straßenbahnen beobachte ich eine neue Gesprächsvariante – die der lauter werdenden Sätze (neu in einem Land, in dem man nichts so sehr fürchtet wie den beständig anwesenden Lauscher), die plötzlich mittendrin abbrechen. Die Syntax des Ungesagten wäre hier ein lohnender Dissertationstitel.

Beatrix Kramlovsky: Die Erde trägt ein Kleid aus Worten, erweiterte, überarbeitete Neuauflage 2010, S. 41

Und das ist für einen Eintrag, der (mal wieder) mit meinem wiederholten öffentlichen Verstummen bzw. dem rein sporadischen Schreiben begann, ein ziemlich passender Schluss. 😉

Diesmal stehend: "Die Erde trägt ein Kleid aus Worten, "A Manual for Cleaning Women" und "Girl, Woman, Other" auf einem Balkontisch vor Sommerhimmel
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