Reichlich spät dran bin ich mit diesem Teil drei, aber ausgerechnet den Teil zur bildenden Kunst und zum Sehen auszulassen bei meinen Überlegungen zu Siri Hustvedts „Living, Thinking, Looking“, das geht gar nicht. Denn auch wenn ich die meisten Künstler und Werke, über die sie schreibt, vorher nicht kannte, so gab es darin doch viel Erhellendes.
So schreibt sie etwa im Essay „The Drama of Perception. Looking at Morandi“ (ein Maler, dessen Name mir zuvor zumindest ein vages Gedühl des Erkennens abrang):
When I draw a thing in front of me, I have always felt that it is as if I am touching it. My hand traces what I feel is its shape. I am not thinking about where my hand is moving. I am looking and rendering. The two acts aren’t separate but one and the same process.
Siri Hustvedt, „The Drama of Perception“, in: „Living, Thinking, Looking“ pp. 242
Genau so geht es mir, wenn ich etwas zeichne oder male. Ich denke nicht nach, meine Hand folgt einfach dem, was mein Auge sieht und ich sehe dabei zu. Allerdings scheint das nicht jedem Menschen so zu gehen, denn als ich mich einmal breitschlagen ließ, einer anderen Person das Zeichnen beizubringen, war diese völlig entrüstet über meine Aufforderung, sie solle einfach ihre Hand mit dem Stift die Form des Gegenstandes beschreiben lassen.
Um ein ganz anderes Phänomen, das mich sowohl als Filmwissenschaftlerin beschäftigte wie es auch bei einem aktuellen Schreibprojekt eine große Rolle spielt, geht es im Essay „Old Pictures“:
Every photographed subject becomes a sign of disappearance because it belongs to the past. That’s why each family photo, even if it was taken last week, carries in it a quality of bereavement, of loss.
Hustvedt, „Old Pictures“, in: „Living, Thinking, Looking“, p. 255
Der Versuch, den Moment in einem Foto festzuhalten, führt mithin nur dazu, diesen unwiederbringlich in die Vergangenheit zu verschieben. Und das hat für Hustvedt etwas damit zu tun, dass Fotografien, anders als Erinnerungen, keine Bedeutungen festhalten, wie sie mit John Berger folgert. Die Bedeutung des Momentes ist fort, es gibt nur noch die Bedeutung, die ich dem Foto im Rückblick zuordne. Oder die zum Scheitern verurteilte Suche nach der Bedeutung, die der Moment an sich hatte. Was in meinen Augen Selfies um so eigenartiger macht … aber die sind eh ein ganz eigenes Thema (für mich, nicht für Hustvedt), weil ich nie so recht begreife, wer hier was für wen festhalten will (mal ganz abgesehen von der Frage nach dem Warum und dem Zweck).
Während ich also ein Selfie als einen rein äußerlichen Gegenstand beschreiben würde und Fotografien von Menschen und Momenten eine seltsam zeitverschobene, man könnte auch sagen: entrückte Qualität innewohnt, kommt Hustvedt ganz am Schluss ihres Buches zu einem geradezu poetischen Gedanken, was die Betrachtung von Werken der bildenden Kunst betrifft:
When we come to a work of art, we are not only witnesses to the results of anpther person’s intentional play in his or her fictive space, we are free to play ourselves, to muse and dream and question and theorize. As spectators, we too find ourselves in a potential space between us and what we see vecause perception is active and creative, and artworks engage us, not just intellectually but emotionally, physically, consciously, and unconsciously, and that dialogue may be, as Schelling believed, finally indeterminable.
Hustvedt, „Embodied Visions“, in: Living,Thinking, Looking“, p. 354
Nicht zu entscheiden, nicht festzulegen, nicht festlegbar, in einer offenen und lebendigen, wechselseitigen Beziehung mit dem Kunstwerk — das gilt aus meiner Sicht nicht nur für die bildende Kunst, sondern für alle Kunst, für Musik, Literatur, Drama, Film. Denn wenn sie nicht wahrgenommen wird von einem anderen, lebendigen (menschlichen) Wesen, was bliebe dann von der Kunst?