Sinne(n) und Denken (1)

Leider finde ich kein Wort, mit dem ich „musing(s)“ elegant und ohne Umschweife ins Deutsche übersetzen könnte. So muss ich mein Nachdenken über Siri Hustvedts „Living, Thinking, Looking“ und die Frage, welche Auswirkungen es hat, dass ich diesen Essayband Stück für Stück über Monate las, eben mit drei Worten, zwei Klammern und einer ergänzenden Zahl umschreiben.

Die Taschenbuchausgabe von Siri Hustvedts "Living.Thinking.Looking" auf dem Holzfußbodens meines Arbeitszimmers.
Übungen (nicht nur) auf dem Boden der Tatsachen: Der Essayband „Living, Thinking, Looking“ von Siri Hustvedt.

Auf einer anderen Ebene passt genau dieses Provisorische, nämlich zu all den Klebeschnipseln, die meine nun ausgelesene Taschenbuchausgabe des Buches zieren. Sie liefern den Faden der Ariadne, um mich ins Labyrinth meiner eigenen Lektüreerinnerungen zurückzuwagen.

It’s important to anchor the people or objects you remember or imagine in a mental space – or they begin to float away, or worse, disappear.

Siri Hustvedt, „Variations on Desire“ in; „Living, Thinking, Looking“, p. 5

Ich erinnere mich nicht mehr, warum ich dieses Zitat hervorhob, als ich das Buch vor rund anderthalb Jahren das erste Mal aufschlug. Ich weiß aber, dass ich hier oben in meinem Arbeitszimmer auf meinen ehemals weißen Sesseln saß, als ich das tat – das Rot des Covers passt perfekt zu dem meines Beistellbüchertisches, wie könnte ich das vergessen? Möglicherweise dachte ich über Demenz nach oder über andere Formen des unfreiwilligen Vergessens und fragte mich, ob ich diesen Satz bzw. den Gedanken dahinter in eines meiner Uniseminare einbauen könnte. Oder es ging mir ähnlich wie beim heutigen Wiederlesen, das von einem inneren Kopfnicken begleitet war: „Stimmt genau, das versuche ich ‚meinen‘ Autorinnen und Autoren ebenfalls beizubringen, damit weder sie beim Schreiben noch alle anderen beim Lesen in den Räumne ihrer imaginierten Geschichten verloren gehen.“

Der Rest des mit „Living“ überschriebenen Buchdrittels ist leider so gut wie klebezettelfrei, dabei bin ich ziemlich sicher, dass ich die darunter versammelten Essays mit Genuss und Interesse las. Manch ein Thema war mir womöglich schon zu nah, um daraus einzelne Gedanken hervorheben zu wollen – wie etwa „My Strange Head. Notes on Migraine“, das ich sicher noch mehrfach lesen werde, bei dem ich bereits den ersten Satz eins zu eins unterschreiben kann:

I am a Migraineur. I use the noun with care, because after a lifetime of headaches, I have come to think of migraines as a part of me, not as some force or plague that infects my body.

Hustvedt, „Living, Thinking, Looking“, p. 24

Doch zwei Tage nach der letzten Migräne habe ich gerade gar keine Lust, über dieses Phänomen, diesen Aspekt auch meines Lebens nachzudenken, und springe statt dessen zur letzten markierten Stelle des ersten Buchdrittels, die sich in einem ebenfalls ausgesprochen wiederlesenswerten Essay befindet. In „My Father/Myslef“ geht es um Fragen von Identität und Identifikation, Themen, die mich ebenfalls immer wieder beschäftigen, im Leben und im Denken und dazu noch als Lehrende:

Identities, identifications, and desires cannot be untangled from one another. We become ourselves through others, and the self is a porous thing, not a sealed container. If it begins as a genetic map, it is one that is expressed over time and only in relation to the world. […] We do not author ourselves, which is not to say that we have no agency or responsibility, but rather that becoming doesn’t escape relation.

Living. Thinking, Looking, p. 70

Das Bild des porösen Selbst, das ihre Beobachtung in meinem Kopf entstehen ließ, ist das eines dieser löchrigen, saugfähigen ‚Steine‘, aus denen Katzenstreu besteht. Das ist schräg, aber sehr einprägsam, und ich finde es gelungener und realistischer als die Vorstellung eines festen, unveränderlichen Kerns, den man sich sonst ja gern spontan vorstellt, wenn es um das eigene Wesen, das eigene Ich geht — und bei dem häufig reflexhaft die Bedeutung der anderen für das eigene Sein und erst recht den Weg dorthin geleugnet wird. Am Ende bleibt es bis heute bei John Donnes poetischer verdichteter Erkenntnis „No man is an island“.

Wobei dieses Ende für mein Nachdenken über dieses Buch ein vorläufiges ist. Mal schauen, wohin mich die Reise morgen führen wird, wenn ich mich Hustvedts Essays und meinen Klebezettelspuren widmen werde, in denen es um den Komplex „Thinking“ geht.

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