Doppelte Zeitverzerrung

Dass die Zeit bei schönen und spannenden Erlebnissen schier verfliegt, während unangenehme oder langweilige Dinge sie zäh wie Kaugummi werden lassen, kennt jeder. Zugleich gilt aber auch, dass sich für Kinder die Zeit bis ins Endlose dehnen kann, weil sie jeden Tag so viele neue, erste Erfahrungen machen, aber wenig Erfahrung mit Zeit haben. Und umgekehrt wird die Zeit im Alter doppelt (zu) kurz, da man einerseits immer weniger zum ersten Mal erlebt, dafür andererseits selbst immer langsamer wird, also für diverse Tätigkeiten mehr Zeit braucht.

So weit, so bekannt. Was aber soll ich davon halten, dass sich zwischen Mittwoch und Mittwoch die Zeit für mich gefühlt aufs Doppelte dehnt, während sie zwischen den Wochenenden rasant zusammengeschnurrt wird?

Ja, auch ich werde älter und langsamer, und mit Blick aufs Wochenende bemerke ich immer wieder, oh, schon fast vorbei, die Woche, und noch so viel von meiner To-Do-Liste offen. Und, okay, die Chemotherapie meines Lebensmenschen findet mittwochs statt, sodass wir in diesem Zeitraum unsere diesbezüglichen Erfahrungen mit Wirkungen und Nebenwirkungen und dem Umgang damit betrachten. Da das für uns beide allesamt neue Erfahrungen sind, kann es durchaus angehen, dass wir in dieser Hinsicht die Zeit gewissermaßen kindgleich gedehnt erleben: Wie, erst eine Woche vergangen und so vieles ist in dieser Spanne geschehen?

Aber heißt das nicht auch, dass das Verfliegen der Zeit beileibe nicht immer gut ist – Stichwort gehetzte Menschen des 21. Jahrhunderts – und ihre Dehnung nicht grundsätzlich schlecht? Anders gefragt: ist das kindliche Erleben von Zeit oder, genauer, das intensivere Erleben all der gegenwärtigen Momente dank neuer Erfahrungen, womöglich der ‚beginners mind‘, den man in der Meditation sucht?

Rein logisch betrachtet, muss ich weder unerfahrenes Kind sein noch mit potenziell überfordernden Herausforderungen wie einer Chemotherapie konfontiert sein, um den Augenblick wahrzunehmen – wieder und wieder und wieder offen und neu – und so die Zeit aus einer Perspektive als gedehnt (= voller neuer Eindrücke) und aus einer anderen als fliegend (= spannend, verfließend) wahrzunehmen. Und am Ende könnte daraus dann eine doppelte Einheit von Zeit und wahrnehmendem Selbst werden, vielleicht sogar ohne Erleuchtung oder dergleichen.

Bedenkenswert ist das allemal. Und da muss ich noch nicht einmal die Doppelbödigkeit meines ganz direkt gemeinten Satzes am Telefon heute mittag miteinbeziehen: „Meine ZEIT ist nicht gekommen.“ 😉

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