Es fängt im Stuhlkreis auf eher karger Bühne an – sieben Menschen, traumatisiert vom Krieg, von persönlichen Verlusten, sieben Menschen, wie sie auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. Denn sie sind Juden, Christen und Muslime in Jerusalem, und das so sehr in dem aus Saladins wie Lessings Zeiten wie mittendrin im Heute. Doch was dann in Karsten Dahlems Klassiker-Inszenierung passiert, wie sich die Dinge in der gestrigen Premiere von Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ in der Essener Casa entwickeln, das hat es in sich, das überrascht, fesselt und berührt.
Denn was erstmal distanziert wie die Sitzung einer Selbsthilfegruppe beginnt, die allerdings immer wieder vom Lärm der Raketenangriffe unterbrochen wird, kommt einem rasch so nah, als wäre man selbst mittendrin. Denn die Intensität, mit der Luzie Juckenburg die aus dem Feuer gerettete und dann in Liebe zu ihrem rettenden Engel entbrannte Recha zeigt, die überwindet nicht nur religiösen Fanatismus und christilichen Dünkel eben dieses ritterlichen Tempelherrn (Alexey Ekimov) sie findet in seinem nicht minder packenden Spiel. Und das wiederum berührt so tief, dass ich im ersten Augenblick beinahe zurückschreckte und mich verwundert fragte, ob ich wohl durch coronabedingten Kulturentzug plötzlich emotional überempfänglich geworden sei.
Aber nein, es ist die Kunst dieses Stücks, dieser Inszenierung und dieses Ensembles, das an diesem Abend ganz sicher nicht nur mich eroberte. Die karge Bühne, die simplen Kostüme (Ausstattung: Claudia Kalinski) lassen genug Raum für die Figuren, die den prekären Waffenstillstand im Krieg der Religionen mit ihrer Geschichte nebst Ringparabel erleben und dank Lessings so eleganter wie effizienter Dramaturgie eine ungeheure Wandlung durchleben. Die Verlagerung ins Jetzt des scheinbar ewig andauernden Nahostkonflikts gelingt dabei Dahlems Inszenierung so stimmig, dass ich sicher bin, Gotthold Ephraim Lessing hätte es gefallen. Dass in der Geschichte, in der (fast) alle etwas anderes sind, als sie auf den ersten Blick scheinen, Männer auch Frauen (Sven Seeburg als starke Sittah wie als reuig-zweifelnder Mönch) und Frauen zwischenzeitlich Männer (Sabine Osthoff als flirrende Daja und als im Eifer erstarrter Patriarch) spielen, passt. Erst recht bei Nathan, dem Ines Krug Leben in so vielen Nuancen verleiht. Schließlich, wie Nathan zu sagen pflegt, geht es darum, den Mensch zu sehen und nicht dessen Religion – oder eben dessen Geschlecht. Wie könnte Saladin (beweglich: Thomas Büchel) also anders, als sein/ihr Freund sein zu wollen?
Am Ende gelingt Ensemble und Inszenierung dann sogar das Kunststück, das Happy End mit der Versöhnung der Religionen in der Erkenntnis, dass alle eine Menschheitsfamilie sind, nicht einfach naiv, sondern sogar ein wenig gebrochen erscheinen zu lassen: So, wie es zwischen Recha und dem Tempelherrn funkte, ist es fast tragisch, dass sie nun Blanda und Kurt und eben Geschwister sind.
Großer Applaus, verdient für eine ganz besondere Inszenierung, die man sich sicher mehr als einmal ansehen kann – als Mann, als Frau, als Jugendlicher oder Erwachsener, als Gläubiger oder Atheist, eben als Mensch.
P.S.: Wer mitgezählt hat und sich wunderte, wo da die siebte Person im Stuhlkreis bleibt: das ist Hajo Wiesemann, der als Musiker immer mit auf der Bühne und Teil der Inszenierung wie des Ensembles ist.