Grußlos glücklich?

Einer unserer Nachbarn grüßt uns nicht mehr, ganz gleich, ob wir ihm im Haus oder auf der Straße begegnen. Das könnte man einfach mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem Achselzucken abtun, schließlich kann man niemand dazu zwingen, sich höflich und zivilisiert zu verhalten. Aber es bringt mich doch auf diverse Gedanken …

Wie vermutlich viele andere Menschen hatte ich vor allem in jüngeren Jahren eine eher skeptische Haltung, was Höflichkeit angeht. Das waren halt so altmodische Verhaltensregeln, Dinge, die man anderen zuliebe macht, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen oder dergleichen mehr. Manches davon hat ‚logisch nachvollziehbare‘ Wurzeln, wie die diversen Begrüßungsrituale, mit denen man seinem Gegenüber auf die eine oder andere Art zeigt, dass man unbewaffnet ist und somit in friedlicher Absicht unterwegs ist.

Anderes, vor allem viele sogenannte Höflichkeitsformeln (Formeln – formelhaft – man beachte die Formulierung … ) hatten aber auch einen Beigeschmack: Kann man „Grüßgott“ sagen, wenn man sich nicht sicher ist, ob und wenn ja, ggf. an welchen Gott man glaubt? Soll man dem „Wie geht es Ihnen/Dir?“ hinterherschieben, weil ‚man‘ das halt so macht, auch wenn man sich nur in Ausnahmefällen tatsächlich für einen ausführlichen Zustandsbericht des anderen interessiert? Ist all das, sehr deutsch gedacht, nicht allesamt potenziell unaufrichtig, unehrlich, weil gar nicht eins zu eins wörtlich gemeint?

Berechtigte Fragen, gewiss. Und wenn man von all den Zweifeln ausgeht, dann noch berücksichtigt, dass es sich bei unserem Nachbarn um einen Menschen handelt, dessen Haltung uns schon manches Mal … nun, sagen wir es höflich: Nerven gekostet hat, selbst als er noch grüßte, könnte man, wie oben angedeutet, einfach mit den Achseln zucken und sich sagen, „dann eben nicht.“ Dann muss ich gar nicht erst überlegen, wünsche ich ihm wirklich einen Guten Tag.

Allerdings, so wird mir nun bewusst, geht es beim Gruß gar nicht allein um das, was man an der Stelle wortwörtlich dem anderen wünscht. Es geht nicht um diese oder jene Worte, auch nicht um Knigge-Fragen, wer nun wann wen zuerst zu grüßen hätte. Es geht, wenn ich es recht bedenke, vor allem darum, sich selbst und dem anderen zu zeigen, dass man einander und im anderen einen Menschen wie sich selbst sieht. Ich muss den anderen nicht mögen, ich muss nicht mit ihm einer Meinung sein, ich mag jemand einen „Guten Tag“ wünschen und gerade ganz andere Dinge denken, aber ich kann ihn – und mich, vielleicht sogar vor allem mich selbst – daran erinnern, dass wir grundsätzlich gleichberechtigte, ebenbürtige Wesen sind.

Vielleicht ist das sogar der Kern dessen, was Höflichkeit an sich ausmacht: im anderen, egal ob fremd oder vertraut, geliebt oder gerade nicht grün, gar verfeindet (was ich von meiner Warte betrachtet ohnehin mit niemand bin), den Menschen sehen. Und, wenn man einen richtig guten Tag mit „weiser“ Tagesform erwischt, womöglich sogar im Hinterkopf haben, dass es Dinge geben mag, wo man selbst irrt.

P.S.: Was auch noch ein Gedanke ist, dem ich demnächst gerne nachgehen würde: Ist es nicht ungemein passend, dass im Wort „Wichtigtuer“ ein „Wicht“ verborgen ist? Aber das ist eine ganz andere Geschichte …

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