Ist Karen Duves in den 1820ern angesiedelter Roman ein biografischer oder ein historischer? Und wie wichtig ist es, dass die vom Frauenbild und den Standesdünkeln ihrer Zeit eingeengte Protagonistin die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff ist? Und verbirgt sich in den Antworten auf diese Fragen womöglich auch die Ursache dafür, dass ich erst ewig brauchte, das Buch zuende zu lesen und nun obendrein Wochen, um endlich darüber zu schreiben?
Nun denn. Nachdem ich dem Roman im letzten Oktober auf einer Lesung mit Gebärdendolmetscher begegnet war, wollte ich ihn unbedingt lesen, freute mich also entsprechend, als ich ihn zu Weihnachten bekam und konnte es kaum erwarten, mich in die Lektüre zu stürzen.
Und damit das frühe 19. Jahrhundert mitsamt seiner Geschichte – dem Kampf gegen Napoleon, den Studentenbünden und all den Versuchen, etwas wie ein deutsches Nationalbewusstsein zu schaffen inklusive Wörterbuch und Märchensammlung, aber auch Franzosenhass und ‚mittelalterlicher‘ Deutschtümelei – zu erkunden. Denn davon ein Bild zu zeichnen, das zugleich ein Panorama bietet, einen Überblick und Detailansichten bilden, das kann Duve. Dabei spielt es keine Rolle, ob es um geschichtliche Ereignisse wie etwa die Ermordung Kotzebues geht, die für sich stehen und zugleich zu Fäden im großen Romangewebe werden, oder um Alltagshistorisches – wie etwa alles rund ums unbequeme, aber von der weit verstreuten Verwandschaft unbedingt erwartete Reisen. Droste-Hülshoff mit dieser Cousine auf dem holprigen Weg zu jener Tante, mit den meisten Geschwistern bei den Grimms in Kassel oder auch zur Kur mit der Großmutter, das waren ganz wunderbare Lesereisen für mich. Diese Kapitel habe ich geliebt – alles, was mir das Leben und den Alltag, sei es in der Stadt oder auf dem Land vorstellt, alles, was mir auch die Zwickmühle von Annette als intelligenter, begabter Frau in einer Zeit, die sich weibliche Wesen nicht anders als sittsam, aber geistig desinteressiert vorstellen konnte, nahebrachte, hat mich mitgenommen und berührt.
Aber dann ist da ja noch der Plot. Das, was laut Umschlagtext die Liebes- und Lebenskatastrophe der Dichterin ist. Also die Liebesgeschichte, die keine sein darf, eben wegen der eingangs erwähnten Standesdünkel und des idiotischen Frauenbilds, und, so zeigt es der Roman, wegen des Neids der weniger begabten Männer und der hübscheren, angepassteren Frauen in ihrer Familie und ihrem Umfeld. Denn die haben allesamt nichts besseres zu tun, als eine Intrige zu spinnen, um die mögliche Verbindung zwischen Annette von Droste-Hülshoff und dem mittellosen Bürgerlichen Straube zu verhindern.
Warum dieser Plot meinem Lesevergnügen derart im Weg stand, dass ich das Buch zwischendrin immer wieder tagelang und länger liegen ließ, und mich jedes Mal mehr und mehr überwinden musste, weiterzulesen, ist mir nicht ganz klar. Er ist durchsichtig. Es liegt auf der Hand. Es ist glasklar, was da passiert und zugleich lässt Duve es so aussehen, als bekämen Annette und Straube nichts, aber auch gar nichts davon mit. Dumme konventionelle Menschen machen eine Intrige gegen zwei intelligente Menschen und die merken es nicht – war es das? Nahmen die beiden Protagonisten dabei Schaden, zumindest für mich?
Als historischer Roman, als Text, der mit den Mitteln des Romans das beginnende 19. Jahrhundert erkundet und dabei immer wieder bemerkenswerte Parallelen zu heute aufwirft, ist das Buch für mich gelungen. Als biografischer Roman gerät das Ganze ins Schwimmen, weil dank des Intrigenplots sein Gegenstand – eben die Hülshoff – ins Lächerliche gezogen wird, ohne dass mir genau das nun mehr über sie als Dichterin sagt, mir eine echte, neue Perspektive auf ihr Leben eröffnet. Und wenn man mit den Mitteln des Romans die erdrückende, erstickende, beklemmende Enge des Frauenlebens in früheren Zeiten erlebbar machen möchte – nun, ich fürchte, da wäre dann eine fiktionale Figur effizienter gewesen. Denn an den klaustophobischen Effekt etwa von Jane Austens Persuasion, dem man so wenig ausweichen kann wie die Protagonistin ihrem gesellschaftlichen Korsett, kommt Duve bei Weitem nicht heran.