Zettelwirtschaft III

Erinnerung und Wiederholung, und die Frage, inwiefern die Schreib- und Leserichtung unserer jeweiligen Muttersprache sich auf unsere räumliche Vorstellung davon auswirken, darum geht es u.a. in „Remembering in Art: The Horizontal and the Vertical“, dem letzten Essay in Siri Hustvedts Sammlung „What are we?“, den ich vor einer ganzen Weile schon mit Klebezetteln spickte.

Aber die Richtungen, mit denen alles anfängt, liegen auf einer einzigen Linie:

Recollection looks backward, repetition forward.

[Siri Hustvedt: „Remembering in Art: The Horizontal and the Vertical“, in: „A Woman Looking at Men Looking at Women“, p. 452]

Vergangenheit und Zukunft, kann man das so sagen? Wiederholung evoziert zumindest Zukünftiges, denn wenn ich begriffen habe, dass etwas wiederholt wird/sich wiederholt – sei es Sonnenauf- und -untergang, der Ruf eines Vogels oder bestimmte Elemente in der Architektur, Reimschemata eines Gedichts etc. -, dann entsteht nicht nur ein Rhythmus: Erwartungen werden geweckt. Und Erwartung ist ja letztlich nichts anderes als vorweggenommene Zukunft. Spürbare Zeit also.

I am not interested here in the time of clocks and calendars or in the time of theoretical physics but rather in the felt rhythms of before and after and the strange reality of a present, which cannot be a vanishing point in time, an impossibly small temporal unit, but a continuum in which the represented past is pulled into the present in anticipation of the future.

[Hustvedt: Remembering in Art …, p. 453]

Die Idee einer nicht zerlegenden, ‚analytischen‘, messend/gemessenen Zeit, sondern von Zeit als Rhythmus und Kontinuum in einem einzigen und dabei so eleganten, langen Satz auszudrücken, dafür braucht es eine klare, eigene Denkerin aber vor allem eine Schriftstellerin vom Kaliber Hustvedts. Und dahinter liegt für mich eine ungeheure, bildliche Kraft, eine Vorstellung voller Wahrheit und Schönheit: eine pulsierende Spirale, voller Leben, so erscheint die Zeit hier.

Und um Bilder geht es auch in diesem Essay. Hustvedts Ausgangspunkt ist die Begegnung mit einem ihr unbekannten Bild, das sie auf den ersten Blick „Chardin“ denken lässt: und, in der Tat, die ’silberne Tasse‘ ist tatsächlich von ihm. Wie kann es sein, dass man ein noch nie gesehenes Werk eines Malers automatisch diesem zuschreiben kann, nur weil man zuvor andere Arbeiten von ihm sah, fragt sich Hustvedt.

I have repeatedly stressed in my writing about visual art that the relation we have to it is a from of intersubjectivity. It is not a relation between person and thing, between me and a painted silver cup on a canvas. Chardin’s silver cup is humanized by the simple fact that he not only produced the work but the gestures of his body remain a part of it. His touch becomes mine in viewing.

[Hustvedt: „Remembering in Art …“, p. 459]

Für mich ist die Erfahrung, von der sie hier spricht, als visueller und selbst malender Mensch so selbstverständlich, dass es mir bisher nie notwendig erschienen ist, auch nur zu versuchen, sie in Worte zu fassen. Das war einfach so ein „Maler-Ding“, etwas, das mich ähnlich fasziniert wie die Tatsache, dass ich beim Betrachten eines Bildes räumlich die Perspektive des Malers einnehme (während ich beim Hören von Musik keine Ahnung habe, wie ein Komponist ein Stück ‚hörte‘, während er es schrieb). Und dass ich den für jeden Maler ja höchst charakteristischen Pinselstrich auch ein Stück weit die Bewegung, den Schwung des Werkzeugs fühlen kann, das schien mir bislang schlicht zu dem zu gehören, wie sich für mich sowohl Malerei als auch Malen erschließt. Dass das anderen Menschen (potenziell allen?) so gehen könnte, inklusive denjenigen, die selbst nie auf die Idee kämen, einen Pinsel in Farbe zu tauchen und damit dann über eine Leinwand zu fahren (was für mich übrigens beim Schreiben die Empfindung der Bewegung in Hand und Arm und einen speziellen, feuchten Geruch in der Nase hervorruft), darauf wäre ich nicht gekommen.

Was, auch ohne den kompletten Inhalt des Essay wiederzugeben und seine Hauptthese nur streifend, gut zum letzten Absatz von Hustvedts Text passt:

„Fixed ideas,“ Kierkegaard wrote in a journal entry, „are like cramps e.g. in the foot — the best remedy for them is to trample on them.“ It has been my purpose here to open rather than to close the question of memory in art, to propose plural ambiguities rather than a single „inherited“ fixed idea or expectation, borrowed from philosophy, science, or aesthetics. time inevitably understood in spatial terms, and it is valuable to upend our fixed metaphor of left-to-right horizontality in the West without abandoning it. It is a useful concept. But time and memory have verticality, too, if we understand that verticality as a part of our mammalian heritage, as part of a prereflective reality that is also embodied experience. […] I see. I feel. I remember. The work in front of me is at once of me and not of me. I muse and I wonder. I interrogate my response. I take time.

[Hustvedt: Remembering in Art …, p. 472]

Ein schöner Schluss, finde ich, einer, der die Leserin ins Freie entlässt, sozusagen, sie aufruft, sich selbst aufzumachen auf ihren eigenen Streifzug durch die Kunst und die Philosophie, denkend, sehend, fühlend und immer wieder staunend.

Tja. Und ich muss mir jetzt ein neues Werk suchen, das mich so begeistert wie diese Essaysammlung …

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Schreibkram abgelegt und mit , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.