In „Subjunctive Flights: Thinking Through the Embodied Reality of Imaginary Worlds“ geht Siri Hustvedt der Frage nach, was genau passiert, wenn wir Bücher lesen? Wenn wir mit fiktionalen Charakteren in deren Welten eintauchen, mit ihnen mitfiebern, lachen, erschrecken, weinen – kurzum: wenn wir auf sie mit denselben Emotionen reagieren, mit denen wir sonst mit der ‚realen Realität‘ interagieren – welcher Unterschied besteht dann zwischen ‚echten‘ Erfahrungen und ‚er-lesenen‘?
Reading a novel obviously requires cognitive skills and appraisals of what is going on in the text, but once deciphering letters has been mastered, the act of reading itself is unconscious. O [the reader Hustvedt in her essay has reading „Wuthering Heights“] does not worry about sounding out the words on the page. The fear that visits him when Catherine’s ghost appears in the text is generated by the symbolic representation of an imaginary story, but his emotion is not a symbol of anything.
[Siri Hustvedt: „Subjunctive flights: Thinking Through the Embodied Reality of Imaginary Worlds“, in: „A Woman Looking at Men Looking at Women“, p. 439]
Naheliegend, oder? Denn warum sollten unsere Gefühle und alles, was in unserem Gehirn, unserem Körper, an ihrer Entstehung und Wahrnehmung beteiligt ist, anders sein, nur weil etwas Fiktionales statt etwas Reales sie auslöste? Überhaupt: inwiefern unterscheiden sich Fiktionen im Sinne von reinen Erfindungen, und das, was wir Erinnerungen nennen:
When I remember an incident from my childhood – for example, the day I fell on the ice in the fifth grade and cut open my chin, an injury that required six stitches – should the images I conjure in my mind now of the child I was then be called real or imaginary? Memory may be reproductive, but it is notoriously unreliable.
[Hustvedt: „Subjunctive Flights …“, p. 440]
Eine Erinnerung ist kein Abbild wie eine Fotografie. Sich an etwas zu erinnern, muss nicht einmal dieselben oder auch nur ähnliche Gefühle wecken wie es das Erlebnis selbst einst tat (ob man sich z.B. am Xten gemeinsamen Jahrestag oder drei Minuten nach einer hässlichen Scheidung an die einstige, romantische Hochzeit erinnerte, dürfte einen gewaltigen Unterscheid machen … ). Aber es wird vermutlich mit irgendwelchen Gefühlen verbunden sein (denn man erinnert sich nun mal besser an emotional aufgeladene Ereignisse als an neutrale solche) – und da zieht Hustvedt mit Verweis auf Henry James eine Verbindungslinie zur Kunst:
So what does happen to O when he reads about the bleeding phantom and experiences that momentary shudder? Henry James famously wrote, „In the arts, feeling is always meaning.“ The original ground of all meaning may well rest on the pain-pleasure spectrum of mammalian experience that is prelinguistic and preconceptual. […] All works of art, including the novel, are animated in the body of the spectator, listener, or reader.
[Hustvedt, „Subjunctive Flights …“, p. 441]
Eigenartiger Gedanke: dass das, was wir auch ‚geistige Vergnügungen‘ nennen könnten, letztlich genauso eine körperliche Erfahrung ist wie alles andere in unserem Leben. Und zugleich naheliegend, logisch und obendrein ein wunderbarer Stinkefinger in Richtung all der angeblich ach-so-vergeistigten Männer, die sich im Lauf der Jahrhunderte den als oh-so-körperlich verschrieenen Frauen überlegen fühlten – eine Erkenntnis voller ausgleichender Gerechtigkeit, wenn man so will.
Aber zurück zur Frage, was Fiktion eigentlich ist und wie wir die Emotionen, die sie in uns auslöst, die Erfahrungen, die wir mit ihr und durch siemachen, einordnen und verstehen können:
Fiction is not an escape from the world [..]. Imaginary experience is also experience.
[Hustvedt, „Subjunctive Flights …“, p. 447]
Bliebe die Frage, wie lassen sich die Erfahrung, Hustvedts Essay gelesen und dann mit Verspätung darüber geschrieben zu haben mit der Erfahrung vergleichen, mein Nachdenken darüber gelesen zu haben? 😉