Inzwischen bin ich im dritten Teil von Siri Hustvedts Essaysammlung(en) „A Woman Looking at Men Looking at Women“ angelangt. „What Are We? Lectures on the Human Condition“ ist dieser überschrieben, und ich schreibe heute über das erste Essay darin, das sich mit Grenzüberschreitungen befasst: „Borderlands: First, Second, and Third Person Adventures in Crossing Disciplines“ bringt Philosophie, Neurologie und Literatur zusammen.
Und es fängt schon gut an, denn Hustvedt stellt ihrem Vortrag ein höchst bedenkenswertes Zitat von Niels Bohr aus dem Jahr 1929 voran:
We must, in general, be prepared to accept the fact that a ceomplete elucidation of one and the same object may require divers point of view which defy unique description.
Mich lässt das sofort an den Welle-Teilchen-Dualismus des Photons denken (wahrscheinlich, weil Niels Bohr nun mal Physiker war und die scheinbar paradoxe, eben duale Natur des Lichts in den 1920ern entdeckt und heftig diskutiert wurde, was zeitlich zum Zitat passt) – aber ich finde, die Haltung dahinter ist universell anwendbar. Denn ein x-beliebiges Phänomen in der Wirklichkeit ist das eine, unsere menschlichen Erklärungen dafür, in welcher Disziplin, welcher Wissenschaft auch immer gefunden, sind etwas anderes. Und da muss sich das eine eben nicht komplett im anderen auflösen lassen. Ein gewisser Sinn für Unschärfen (pun intended) und eine möglichst große Toleranz für Uneindeutigkeit ist sicher nicht nur in den Wissenschaften, seien es vorgeblich „harte“ Naturwissenschaften oder vermeintlich „weiche“ Geisteswissenschaft, hilfreich.
Dieser seltsame, manchmal geradezu pathologisch verwendete „Gegensatz“ spielt auch in Hustvedts Esssay eine nicht unerhebliche Rolle:
David Chalmers is the Anglo-American analytical philosopher who coined the term „the hard problem“ in consciousness studies. The hard problem is the gap between the first-person experience of mind-brain-self versus an objective third-person view of a working mind or brain. For the Analyticals, …, the question turns on the problem of qualia – the subjective experience of sensation and feeling, usually framed as „what it is like to be“ inside a particular person or creature. […] He [Chalmers] … goes on to distinguish between „hard-line reductionists.“ those who believe everything about the mind can eventually be explained by and reduced to third-person brain science, and the soft-line reductionists, those like Chalmers himself, who believe further explanation is needed to understand inner reality.
[Siri Hustvedt: Borderlands … , in: A Woman Looking at Men Looking at Women, p. 345]
Interessante Verbindung: hart = von außen betrachtet = objektiv vs. weich = außen allein reicht nicht = subjektiv? Aber mal abgesehen vom höchst sinnvollen Argument der nötigen Nachvollziehbarkeit, warum hat man gerade in den sogenannten „harten Wissenschaft“ den Eindruck einer manchmal fast hysterisch anmutenden Angst vor Subjektivität, die automatisch mit Gefühl und Ungenauigkeit, Unschärfe (aber natürlich nicht der heisenberg’schen)? Siri Hustvedt sagt dazu:
And temperament, I would add, belongs to the realm of feeling. Everyone of us is attracted to ideas that confirm a gut feeling about how things are, and that gut feeling is inevitably subjective, not objective, because it belongs to a particular body and its reality.
[Hustvedt, Borderlands. p. 346]
Wenn etwas nun mal so ist – seien es Menschen, die halt Gefühle haben, die wiederum in alles andere reinspielen, oder eben Photonen, die sich mal wie ein Teilchen und dann wieder wie eine Welle verhalten, dann scheint es ziemlich unvernünftig, das zu verleugnen. Wie soll es helfen, die Realität zu verstehen, wenn man unerwünschte Aspekte derselben verdrängt? Das habe ich noch nie verstanden, weder als Wissenschaftlerin noch als Künstlerin.
Aber Hustvedts Essay dreht sich ja schon nach dem Titel nicht um einen binären Gegensatz, sondern um eine Art „Dreiheit“ entsprechend der ersten, zweiten und dritten Person singular. Und diese drei sind beileibe nicht einfach nur grammtikalische Aspekte der Sprache, wie die Autorin festhält:
While writing this essay, I have changed pronouns several times, moved from „I“ to „we“, as well as to „she“ and „he“, often without fully conscious deliberation. My „I“ can be purely rhetorical or deeply personal. By using the first person, however, I always imply the second person. I am speaking to someone out there, a general „you“, but a you nevertheless. The „I carries its own ghostly interlocutor.
[Hustvedt, Borderlands, p. 348]
Was für ein schöner Gedanke – dass ein „ich“ stets ein „du“ mitdenkt, also stets auch Kommunikation bedeutet, es um mehr, um etwas anderes geht als einen einsamen Monolog. Oder eben die Behauptung von distanziertem Blick auf und zugleich doch Wissen über einen anderen, den die dritte Person impliziert. Das jedenfalls kam mir an dieser Stelle in den Sinn, und ich gestehe, das hallt noch weiter, über das Thema werde ich sicher noch eine ganze Weile nachdenken.
Was aber ist mit dem Selbst hinter dem Ich, wenn es mehr ist als ein grammatikalisches Etwas? Wo kommt es her, wie entsteht es, was macht es aus? Hustvedt zitiert hierzu „Self Come to Mind“ von Damasio aus dem Jahr 2010, der von einer Art Hierachie von verschiedenen Formen des Selbst innerhalb des Gehirns ausgeht:
„In the perspective of evolution and in the perspective of one’s life history, the knower come in steps: the protoself and its primordial feelings; the action-driven core self; and finally the autobiograpical self, which incorporates social and spiritual dimensions.“
[zitiert nach: Hustvedt, Borderlands, pp 356]
Wobei es doch dann bemerkenswert ist, dass das autobiografische Selbst die sozialen und spirituellen Dimensionen verkörpert, also doch recht konkret, eben körperlich und damit verdammt subjektiv ist. 😉 Und Fühlen, Handeln und Erzählen (denn das ist Autobiografie doch: das, was wir selbst uns über uns selbst erzählen) als das, was das Selbst und damit das Innerste von Menschen ausmacht, das fühlt sich richtig an … selbst oder gerade für ein denkendes Wesen wie mich, das immer mal wieder seinen Körper vergisst und der Logik hohe Bedeutung zumisst 😉
Aber das ist ja erst der Anfang, der Auftakt zu Hustvedts Annäherungen an die Frage, was ist der Mensch, was macht uns aus … also mehr demnächst hier in diesem Blog 🙂