Zeitkapsel

Ich weiß nicht mehr genau, welcher Theoretiker des 20. Jahrhunderts sagte, dass Kriminalliteratur Zeitkapseln erschafft. Aber jedes Mal, wenn ich einen klassischen Kriminalroman lese, finde ich die These bestätigt. Das gilt aufs Schönste auch für Ngaio Marshs „Opening Night“, dessen Originalausgabe 1951 erschien. Die Zeit, die zwischen dem Heute und dem Roman liegt, spürt man überall: an den Möbeln und der Mode, an den technischen Gegebenheiten im Theater, wo dieser Premieren-Krimi spielt, aber vor allem an der spürbaren Nähe zum 2. Weltkrieg. Er ist so offenkundig gerade erst vergangen für die Figuren, dass es die Erwähnung von Lebensmittelrationierungen und -karten gar nicht mehr gebraucht hätte.

Zugleich enthält natürlich auch ein zeitgebundener, gewissermaßen „historisch gewordener“ Krimi wie dieser Ideen, Vorstellungen, Gedanken, die komplett zeitlos sind – wie etwa diese:

 

An encounter with a person hitherto only seen and heard on the cinema screen is often disconcerting. It is as if the two-dimensional and enormous image has been contracted about a living skeleton and in taking on substance had acquired an embarrassing normality. One is not glad to change the familiar shadow for the strange reality.

(Ngaio Marsh: Opening Night, Originalausgabe 1951, p. 28)

 

Für mich zeigt dieser Ausschnitt noch etwas, nämlich die genaue Beobachtungsgabe und den feinen Sinn für Ironie seiner Autorin. Und ihr Sprachgefühl – drei Zutaten, die es für mich dann am Ende völlig belanglos machen, dass ich recht bald ahnte, wer warum zum Mörder wurde. Das wiederum bestätigt zwar die Idee, dass der (deduktive) Kriminalroman ein Genre ist, das sich selbst verbraucht („zerstört“ scheint mir als Begriff dann doch zu stark), aber mir kommt es beim Lesen eh bestenfalls zur Hälfe auf die Story an, die mir erzählt wird. Mindestens genau so wichtig ist das Wie des Erzählens – und die Sprache. Und Ngaio Marsh beherrschte dies in einem Maß, das bis heute leider nur allzu viele Autoren, isb. solche, die Genreromane schreiben, schmerzlich vermissen lassen.

Kein Wunder, dass es Ngaio Marshs „Opening Night“ auch heute noch zu kaufen gibt, und zwar sowohl als E-Book wie als Teil eines Sammelbandes als Printausgabe. 🙂

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