So verhält es sich für mich mit Madiha, der Hauptfigur und Ich-Erzählerin aus Jutta Profijts „Unter Fremden“, der soeben als bester Kriminalroman mit dem Friedrich-Glauser-Preis 2018 ausgezeichnet wurde: zunächst ist sie eine Fremde, die aus einer fremden Welt geflohen ist. Zugleich wird durch ihre Augen betrachtet das vertraute, gewohnte, dadurch vielleicht auch ein bisschen langweilige Deutschland plötzlich fremd – und Madiha kommt dem Leser immer näher. Das liegt für mich vor allem an der besonderen Sprache, die ihre Autorin für sie geschaffen hat:
Im Hauptbahnhof frage ich mich zum richtigen Gleis durch und warte auf dem zugigen Bahnsteig. Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung direkt neben mir wahr und spüre etwas in der Tasche meines Mantels, das dort nicht hingehört. Bin ich auch schlecht zu Fuß, so sind meine Reflexe und meine Hände von der Arbeit mit den Tieren gut geschult. So flink, wie ich ein Huhn am Bein fasse, wenn es mir entwischen will, greife ich nach der Hand, die mich bestiehlt. Sie ist halb so groß wie meine und unglaublich schmutzig. Das Kind versucht, sich meinem Griff zu entwinden, aber ich lehne den Stock an die Wand und fasse mit links zu. Diese Hand trainiert seit achtundzwanzig Jahren täglich ohne Unterlass, überträgt mein Gewicht auf die Gehhilfe, fängt Stürze ab. Das Kind hat keine Chance. Mit rechts greife ich in meine Tasche. Stofftaschentuch, Bonbons, Fahrkarte, alles noch da. Natürlich. Der Junge – ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Junge ist – stiehlt Handys. Von seiner Sorte habe ich auf der Flucht viele gesehen. Allerdings bin ich überrascht, einen von ihnen hier zu treffen, mitten in Deutschland.
Sein Gesicht ist so schmutzig wie die Hand, das Haar verfilzt, die Augen verklebt, aus der Nase läuft Rotz. Jetzt dringt mir auch der Geruch seiner ungewaschenen Kleider in die Nase. Es gab Zeiten, in denen ich genauso aussah, genauso stank, weil ich in meiner Kleidung schlief, sie wochenlang weder wechseln noch waschen konnte. Meine bereits zum Schlag erhobene rechte Hand bleibt in der Luft hängen, während sich mein Herz zusammenzieht in der Erinnerung an die Zeiten ohne Dach über dem Kopf, ohne Wasser, ohne Seife, ohne einen geschützten Schlafplatz, ohne ausreichend Essen, ohne Toilette, ohne Wärme. Obwohl der Junge gerade versucht hat, mich zu bestehlen, tut er mir leid. Ich hole die Bonbons aus der Tasche und gebe sie ihm.
Ungläubig starrt er darauf.
Ich lasse seine Hand los, greife nach meinem Stock und schaue ihm hinterher, als er davonflitzt.
(aus: Unter Fremden, S. 104f)
… und wer nach diesem Ausschnitt, mit dem der Roman bei der Preisverleihung in Halle vorgestellt wurde, nun das ganze Buch lesen will, findet es sicher in der Buchhandlung seines Vertrauens:
EAN: 9783423261654
ISBN: 342326165X
Libri: 5213002
‚dtv- premium‘.
dtv Verlagsgesellschaft
September 2017 – 333 Seiten