Blutiger Epos

Chinesische Schachteln, die eine Vorform der russischen Matrioschkas sind, kombiniert mit der Vorstellung eins Labyrinths, sind die erste Assoziation zum bereits 1987 erschienen Roman „Das rote Kornfeld“ von Nobelpreisträger Mo Yan (Pseudonym von Guan Moye, Nobelpreisträger von 2012). Gleich als zweites folgen blutrote Bilder voller starker Emotionen aber eben auch Gewalt und Grausamkeit.

Beides zusammen ist typisch für klassische chinesische Literatur, wobei das mit der blutigen Gewalt wohl zudem einer der Gründe ist, warum ich das Buch beim Lesen kaum aus der Hand legen mochte, selbst wenn ich manche besonders grausame Szenen überfliegend querlas — und weshalb ich nun schon seit Wochen ums Darüberschreiben herumeiere. Bevor mich das aber noch weiter lähmt, nun ein paar Gedanken zu dem 490 Seiten starken Roman.

Er ist ein Epos, weil er eine Familiengeschichte über zwei Generationen ausbreitet und darin zugleich ein opulentes Porträt des ländlichen Chinas von den 1930ern bis in die 80er Jahre zeichnet. Blutrot macht ihn dabei vor allem die Tatsache, dass die Haupthandlung eben in den 30er Jahren, in der Zeit des japanisch-chinesischen Krieges spielt. Dabei verschwimmt desöfteren, wer wessen Gegner ist – gleich mehrere Räuberbanden wie auch offizielle Kräfte stellen Truppen gegen die Japaner auf, die zwischendrin aber oft mit genau derselben Wut gegeneinander kämpfen.

Die Opulenz entsteht dabei vor allem durch die ungemein sinnliche Darstellung der Romanwelt. Alles, was es zu sehen, zu hören und zu riechen gibt, wird mit einer Detailtiefe beschrieben, die je nach Gegenstand betörend oder eben zutiefst verstörend sein kann. Während die Düfte der Blumen oder die Schönheiten der Landschaften so wunderbar plastisch erlebbar werden, verursacht ein Kornfeld voller seit Wochen verrottender Leichen, um deren Überreste sich ein Rudel verwildeter Hunde streitet, geradezu physische Übelkeit — von den Reaktionen auf die nicht minder detailiert dargestellten Folterungen einer Nebenfigur durch die japanischen Besatzer mal ganz zu schweigen.

Dies Art zu beschreiben erschafft so etwas wie ein hyperrealistische Version des Erzählten. Dabei folgt die Erzählung selbst Strategien und Wegen, die wiederum an die eingangs erwähnten chinesischen Schachteln erinnert. So wird die Familiengeschichte hier nicht einfach irgendwo in den 1930ern begonnen um sich dann Jahr um Jahr, Generation für Generation der Gegenwart anzunähern. Vielmehr kreist die Handlung um gewisse Kulminationspunkte, deren Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln und von verschiedene Zeitpunkten aus erzählt wird. Selbst, wenn dabei des öfteren Rückblenden insofern vorkommen, als sich Figur A zum Zeitpunkt X an Zeitpunkt D erinnert fühlt — es findet jedes Mal auch sprachlich einfach ein vollkommener Rücksprung ohne Plusquamperfekt oder andere Markierungen statt, ganz so, als setze an der entsprechenden Stelle im Text ein alternativer oder schlicht versetzter Zeitstrang an.

Noch auffälliger ist die „andere Perspektivstruktur“: Einerseits gibt es einen klar definierten Ich-Erzähler, der Spross der jüngsten Generation eben jener Familie ist, also seine eigene Vor-Geschichte erzählt und auf den auch die Verwandschaftsgrade sämtlicher handelnder Figuren (Großvater, Großmutter, Vater, etc.) verweisen. Andererseits wird der allergrößte Teil des Textes ansonsten aus Sicht dieser oder jener handenden Personen inklusive Innenansichten erzählt – und das auch bei Geschichten, die außer dieser handelnden Person niemand kennen kann, weil diese sie nicht überlebt o.ä. Das passt in meinen Augen zum Hyperrealismus der Sprache, dem es ja auch nicht primär darum zu tun ist, einer fiktionalen Geschichte auf diese Weise zu mehr Realitätsanschein der direkten Art zu verhelfen (ich denke jedenfalls nicht, dass man hier sehr weit mit dem heutzutage so vielbenutzten Begriff der Authentizität kommt bzw. dass dessen Verwendung in diesem Kontext irgendeinen Sinn macht). Vielmehr werden so Reales, scheinbar Reales und gänzlich Erfundenes zu einem über sich selbst hinausweisenden Kunstwerk verwoben, das man zugleich schwelgend wie einen spannenden Abenteuerroman lesen kann – vorausgesetzt, man hat den passenden Magen. 😉

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