Eine Handvoll (II)

Es gibt Bücher, die lassen sich nur schwer in herkömmlichen Genregrenzen fassen. Eva FigesTales of Innocence and Experience (2003) ist so eines. In ihm geht es um Märchen, um das Verhältnis von Großeltern und Enkeln, um Familiengeheimnisse und den zweiten Weltkrieg samt Holocaust – und obwohl es ein Sachbuch ist, steckt es sprachlich voller Poesie.

 

Märchen, darunter ganz zentral Rotkäppchen, Hänsel & Gretel und Von dem Machandelboom, sind die eine Ebene des Buches: Was sind das für Geschichten, die den Kindern erzählt werden? Welche Wirklichkeiten und Wahrheiten verbergen sich darin? Und warum erzählen wir Kindern eigentlich so oft so grausame Geschichten?

Märchen spielen auch im Großeltern-Enkel-Verhältnis allgemein wie ganz konkret in der Beziehung von Eva Figes zu ihrer Enkelin eine große Rolle. Sie werden erzählt (und dabei oftmals erschrocken zensiert), sie werden eingefordert, und sie werden erinnert — schließlich hat Figes selbst sie ursprünglich von ihrer Großmutter erzählt bekommen. So werden die Märchen zum kulturellen Gedächtnis und zur Brücke über die Generationengrenze hinweg.

In Figes‘ Lebensgeschichte verknüpfen sie sich darüber hinaus mit lang gehüteten Familiengeheimnissen und dem Tod ihrer eigenen Großeltern im Holocaust. Geheimnisse, die ihre eigene Mutter am liebsten mit ins Grab genommen hätte, und bei denen Figes selbst sich nun fragt, wann und wie soll die eigene Enkelin davon erfahren?

Denn, so argumentiert sie, die Kindheit ist ein künstliches Paradies, das vor allem dadurch entsteht, dass die Erwachsenen die Kinder so lang als möglich von den grausamen Seiten der Realität abzuschirmen versuchen – was natürlich auch ein Kampf ist, der von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Denn genau so selbstverständlich, wie Kinder irgendwann die Existenz von Feen, Zwergen und dem Osterhasen hinterfragen, so wird auch ihre Enkelin eines Tages ihre Großmutter Eva nach deren Großmutter fragen …

Und da treffen sich dann die ganz großen Bögen, die der Weltgeschichte und die ganz individuelle – was bei Figes geradezu beklemmende Wirkung hat, hart schlucken lässt und mir noch einmal auf ganz neue Art die Gnade meiner späten Geburt vor Augen führ …

Dieser Beitrag wurde unter Schreibkram abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert