Romane erzählen Geschichten, und diese wiederum bestehen für gewöhnlich aus einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Was davon was ist, wird zumeist vom Ende rückblickend bestimmt – und auch vom Genre: Viele Liebesgeschichten beginnen mit der ersten Begegnung derjenigen, die anschließend zu den Liebenden werden, während Kriminalromane häufig mit einem Verbrechen oder auch der Entdeckung eines solchen starten. Am Ende finden die Liebenden zusammen oder trennen sich endgültig und das Verbrechen ist geklärt. Ganz anders, geradezu fundamental anders sieht die Sache bei Lydia Davis‚ wunderbarem Roman The End of the Story aus.
Die namenlose Ich-Erzählerin versucht darin, dem Verlassenwerden Herr zu werden, indem sie akribisch, ja beinahe manisch alles aufzeichnet, was ihr im Zusammenhang mit der gescheiterten Beziehung und vor allem ihrer Reaktion auf deren Ende in Erinnerung ist und bleibt. Die Erinnerung an sich stellt dabei einen großen Themenkomplex dar. So bedingt die rückblickende Perspektive des Erinnerns zwangsläufig eine Interpretation oder wenigstens eine ganz bestimmte Färbung des Erinnerten, weshalb wiederum jeder an einem Ereignis Beteiligte dies anders im Gedächtnis behält. Auch stellt sie fest, dass dieses eine eigene Dynamik besitzt – ein und derselbe Ort kann je nach Ereignis anders erinnert werden, scheint mal größer, mal kleiner, heller, düsterer, etc. Um Wahrhaftigkeit bemüht, schreibt sie nicht nur an ihrem Roman, sondern verfasst zudem Schreibanweisungen für sich, die sie dann selbst jedoch nicht mehr zu deuten weiß: Wie soll sie bestimmen, was in den Roman gehört, was nicht, was verbessert werden muss, was fertig ist?
Noch schwerer fallen ihr die Entscheidungen, die doch so fundamental für einen Roman, eine Geschichte sind – eben wer sind die Protagonisten, sollen sie Namen haben oder nicht, soll die Geschichte so nah wie möglich an der Realität verlaufen (aber was ist diese, wenn von ihr doch nichts als letztlich trügerische Erinnerungen bleiben?) oder kann, darf, ja muss sie womöglich manches ändern und vor allem: Wo soll die Geschichte enden?
In der Realität der Ich-Erzählerin endet die Liebes- und Leidensgeschichte bestenfalls graduell – auch, wenn der akute Schmerz (und ihre zwanghafte, stalkerartige Suche nach dem Ex-Liebhaber bzw. seiner Nähe) irgendwann vergangen ist, denkt sie hin und wieder an diesen Mann und sie beide leben ja weiter. Kein Schlüsselerlebnis markiert den Übergang, und ein solches einfach zu erfinden, scheint ihr nicht richtig. Aber enden muss und enden soll der Roman doch …!
Lydia Davis schreibt, als sei sie das literarische Kind von Virginia Woolf und Laurence Sterne. All ihre Überlegungen zum Schreibprozess an sich, das Ringen mit Sprache und Realität, meinethalben auch das, was in den 1980ern und 1990ern als Metafiktion galt, das erinnert (sic!) an Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy. Das liest sich wie eine selfbegetting novel und ist doch keine – denn letztlich lässt sich aus dem Buch selbst nicht eindeutig beweisen, ob es tatsächlich der Roman ist, den die Ich-Erzählerin schreibt, während sie über das Schreiben schreibt, oder ob das Buch, das der Leser in Händen hält, nicht ein weiteres Notizbuch ist, das beim Versuch, den Roman zu schreiben entstanden ist. (Ja, nach dem Satz darf einem ein bisschen schwindelig sein; der Gedanke wie auch das Buch, das ihn auslöste, kann zu gewissen Schwindelanfällen führen … ;-)).
Sobald sich Davis mithilfe ihrer Ich-Erzählerin jedoch auf die Beobachtung und Beschreibung alltäglicher Ereignisse und des subjektiven Er- und Durchlebens derselben einlässt, ist sie ganz nah bei der wunderbaren, so rationalen wie poetischen Klarheit Virginia Woolfs.
Alles in allem ist The End of the Story kein Buch für jederman. Wer starke Plots mit allem, was dazu gehört, braucht, der ist hier fehl am Platz. Wer jedoch wissen möchte, wie sich Wahrnehmungen, Gefühle, Denken und das, was darüber uns Menschen an Realität zugänglich ist, mit dem feinen Netz der Sprache fangen und darstellen lassen, der wird das Buch lieben.