Schrägschön

Es ist schon schräg, sich in der festen Meinung, Tschaikowski  habe es komponiert,  Cinderella im Aalto-Theater in Essen anzuschauen, um überrascht festzustellen, wie modern das 19. Jahrundert klingt. Kein Wunder, schließlich stammt Prokofjews Kompostion aus den 1930ern und 1940ern … ob sich anderes jedoch dadurch erklären lässt, dass Choreografen Stijn Celis nicht, wie von mir angenommen, Niederländer sondern  Belgier ist, vermag ich nicht zu sagen: immerhin, royale Hintergründe für die geheimnisvolle Orange, die sich fast durchs ganze Stück zieht, fallen damit weg. 😉 5596_6844_Cinderella3 (v.r.n.l.: Anna Khamzina, Denis Untila, Yulia Tsoi, Foto: Bettina Stöß)

Cinderellas Vater (Denis Untila) tanzt immer wieder mit dieser Frucht, tief versunken, als sei sie sein Herz, vielleicht auch das seiner verstorbenen Frau, Cinderellas Mutter (Ana Khamzina). Oder symbolisiert die Apfelsine eine Mischung aus Trauer und Leidenschaft? Hieße die Tatsache, dass der Vaters das Obst während des Umbaus zum dritten Akt vor dem Vorhang verspeist, dann, dass Liebe durch den Magen geht? Um irgendeine Form von Liebe in hellrot muss es wohl gehen, sonst hinge der Bühnenhimmel während des Prinzen‘ (Breno Bittencourt) Suche nach Cinderella (Yulia Tsoi) kaum voller riesiger, oranger Ballons …

Aber das Schöne an der Tanzkunst ist, man muss nicht alles verstehen: Vielleicht sind die weißbefrackten Herren und die weißberockten Damen die Tauben, die Cinderella helfen, vielleicht sind sie auch so etwas Traumgestalten wie die tote Mutter, die wiederholt weißgewandet – „als spielte Scarlett Johansson Marilyn Monroe“, sagte die eine befreundete Kollegin, die mich heute begleitete dazu – durch den Bühnenebel tanzt.

Man muss auch nicht für alles Worte und Erklärungen finden. Selbst, wenn sich Fragen stellen wie die nach dem Sinn und Zweck und vor allem der Wirkung der Besetzung von Stiefmutter (Artur Babajanyan) und -schwestern (Liam Blair, Wataru Shimizu) mit Männern: Einerseits macht das von vornherein klar, der Schuh wird nicht passen und die Männer in Frauentanzkleidern haben nicht unerhebliches, komisches Potenzial. Andererseits sind ihre Auftritte im ersten Akt doch recht affektiert, so dass man darin womöglich eine Diffamierung von Männern – gar von Homosexuellen? – als hässlichere, schlechtere Frauen erblicken könnte.

Könnte, aber nicht unbedingt muss. Zumal … mich ließ die Orange von Cinderellas Papa in diesem Zusammenhang doch sehr an Jeanette Wintersons Roman Oranges Are Not the Only Fruit denken … aber ob Stijn Celis das im Hinterkopf hatte?

So oder so, es war ein interessanter Ballettnachmittag von schräger Schönheit und nahezu komplett frei vom rosa Kitsch raschelnder Tutus … wobei: das wäre ja auch eher bei Tschaikoswki zu befürchten gewesen. Jedenfalls, wenn man unbedingt darauf bestehen würde, meinen höchst eigenen und absolut nicht maßgeblichen Voruteilen zu folgen. 😉

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