Dass ich mich derzeit auf einer Art literarischen Zeitreise befinde, lesend versuche, mich den Jahren 1914-1918 zu nähern, deutete sich ja in dem einen oder anderen Beitrag hier im Blog an. Heute beendete ich eine Etappe, bei der ich nun nicht so recht weiß, was soll ich davon halten: André Gides Die Verliese des Vatikan ist an sich eine ausgesprochen unterhaltsame Lektüre, allein, was soll diese Art des Endes sagen?
Wild, mit viel Fantasie, mindestens ebensoviel Sinn fürs Satirische und kaum Interesse fürs Plausible, Übliche mischt der auktoriale Erzähler die Geschichten dreier Schwäger: die von Anthimos, dem vorübergehend zum Katholizismus bekehrten Freimaurer; die von Julius de Baraglioul, eines dünkelhaften, spießigen Adligen mit schriftstellerischen Ambitionen ohne Talent und die von Amadeus Fleurissoire, dem ärmsten und naivsten der drei, der erst Opfer eines Betrugs und dann eines Mordes ohne Motiv wird. Der Betrug fußt auf dem Gerücht, der wahre Papst sei eingekerkert und müsse mithilfe heimlich eingeworbener Geldmittel befreit werden – daher auch der Titel des Buches.
Mithin geht es über weite Strecken in diesem Schelmenroman mit kriminalistischen Einlagen darum, dass letztlich jeder glaubt, was er zu glauben willens ist, und nur versteht, was er sich zugesteht zu verstehen. Der Mord ohne Motiv könnte darin schlicht das Sinnbild eines ’sinnlosen‘ oder vielmehr ‚zweckfreien‘ Lebens sein, das aber die in ihren Sichtweisen und der Moral ihrer jeweiligen Gesellschaftsschicht gefangenen Romanfiguren nicht begreifen, womöglich auch nicht ertragen können.
Julius hat schließlich einen kurzen Augenblick der Einsicht, einen Moment der Klarheit, den er umgehend jedoch der päpstlichen Verschwörunstheorie wie der unerwarteten ‚Gnade‘ der Berufung in die Akademie opfert. Und der Mörder ohne Motiv, sein unehelicher Halbbruder Lafcadio, gerät am Ende in eine Zwickmühle aus unerträglicher Straflosigkeit und der unerfüllbaren, doch zugleich greifbaren Chance auf Liebe – ganz so abgebrüht, so zynisch, so gleichgültig-erhaben wie er selbst glaubt, ist er wohl nicht.
All das liest sich gut (sobald man sich innerlich drauf eingestellt hat, dass dieses Buch einhundert Jahre alt ist, was naturgemäß erstmal einen heutzutage ungewohnten Sprachstil mit sich bringt), aber es endet dennoch für mich leicht unbefriedigend: Nach all den wilden Galoppsprüngen des Erzählers, den Salti des Plots und den Verknotungen der Figurengeschichten ineinander hatte ich etwas eleganteres als Abschluss erwartet. Allerdings: Seit wann sind Autoren dazu da, die Erwartungen ihrer Leser ausnahmslos zu bedienen — erst recht, wenn es sich um einen Nobelpreisträger des vorigen Jahrhunderts und keinen Mainstreamschreiber aus dem diesen handelt?