Auf kleinstem Raum

In ein Haus muss man erst einmal kommen. Und Raum gibt es nicht nur zwischen vier gemauerten Wänden. So oder so ähnlich könnte man den Anfang meines Beitrags zu Krimianthologie „Küche, Diele, Mord“ auch beschreiben. Aber da ich ihn ja schon geschrieben habe, ist es doch viel einfacher, eben diesen Anfang als Leseprobe hier ins Blog zu stellen …

Die Geisel

Mischa Bach

Wie ein Sack Knochen wurde ihr Körper von einer Seite zur anderen geschleudert. Schmerz durchfuhr sie. Sie wollte schreien, doch der Schrei blieb stecken. Sie konnte den Mund nur wenige Millimeter öffnen. Riemen schnitten in ihre Wangen, ein rundes Objekt aus Plastik raubte ihr die Stimme, denn es drückte auf ihre Zunge, gegen den Gaumen, füllte die Mundhöhle unangenehm aus. Wo es den Lippen gelang, sich voneinander zu entfernen, berührten Zähne und Zahnfleisch klebrigen Stoff. Ein Fauchen war alles, was sie zustande brachte.

Ihre Umgebung geriet erneut ins Schleudern. Haltlos, hilflos rutschte sie von der einen Seite zur andern. Unter ihr – was war da? Und was waren das für Wände, die, wie der Boden zu vibrieren schienen? Wohin war sie geraten? Sie versuchte, die Augen aufzureißen. Es blieb dunkel. Stockfinster. Hatte ihr jemand die Augenlider zugeklebt? Panik wallte in ihr auf, der Herzschlag beschleunigte sich, und die Atmung kam nicht mehr mit. Einzelne Stofffasern standen von dem, was ihren Mund umschloss, ab und kitzelten die Nasenlöcher. Sie musste niesen und geriet im selben Augenblick wieder ins Rutschen. Nach rechts, nach links, vor, zurück? Wie konnte man die Richtung bestimmen, wenn man nichts sah und kaum etwas hörte? Mehr Panik krallte sich in ihr fest. Was, wenn der Stoff nach oben wanderte und ihr die Nase verschloss? Nein, das würde nicht passieren, begriff sie, denn das waren nur einzelne Fasern auf der Außenseite des Klebebandes, mit dem man ihren Mund über dem Knebel verschlossen hatte. Den Bruchteil eines Augenblicks beruhigte es sie zu wissen, sie wird daran nicht ersticken, jedenfalls nicht, solange sie sich nicht übergibt. Aber was war passiert, wo war sie, was war hier los? Alles überschlug sich in ihr, während sie wieder und wieder hin und her geworfen wurde und sich die Knochen anschlug. Denn – das begriff sie jetzt – sie hatte keine Chance, etwas abzufedern. Sie war verschnürt wie ein Paket. Die Hände hinterm Rücken – sie versuchte, sie zu bewegen, und spürte sofort, wie sich etwas klebriges ins Fleisch grub. Sie wackelte mit den Füßen. Das gelang, jedenfalls für einen Augenblick, als sich ihre Lage beruhigte. Aber ihre Beine, die abgewinkelt vor ihrem Leib lagen, konnte sie dennoch kaum bewegen. Etwas hielt die Unterschenkel zusammen. Und die Augen, die Ohren, was war damit? Den Kopf konnte sie bewegen. An der Stirn blieb das Kratzen stets gleich und oben am Nasenrücken wie den Augenbrauen juckte es wollig. Nur mit den Wangen und der Nasenspitze konnte sie die Unterlage, auf der sie lag, fühlen. Sie war rauh und stank. Billiger Filz, Polyestermüll, es roch nach Reinigungsmittel und Benzin.

Plötzlich kam der Raum um sie zur Ruhe. Oder doch fast. Es vibrierte und dröhnte, und es erinnerte sie an etwas alltägliches. Wenn sie nur wüsste, an was. Wenn sie nur eine Ahnung hätte, wo sie war und was mit ihr passiert war. Sie tastete mit Händen und Füßen, soweit das eben ging. Versuchte, den Kopf zu heben. Dann bewegte sich wieder alles und sie rutschte weg. Etwas röhrte auf. Als eine holpernde Bewegung ihrer gesamten Umgebung sie an die Decke schleuderte, begriff sie: Das war der Kofferraum eines fahrenden Wagens! Eine Erkenntnis, die ihr nicht viel nützte, denn der nächste Schlag gegen den Kofferraumdeckel raubte ihr das Bewusstsein.

Dunkel. Es war noch immer stockfinster und überdies klebrig in ihrem Gesicht, aber sie wurde nicht mehr hin und her geworfen. Das war der erste Gedanke, als sie das nächste Mal zu sich kam. Der Boden unter ihrer Wange war glatt und roch gut. Holz, das könnte Holz sein, dachte sie. Holz?! Sie schrak auf, erwartete, mit dem Kopf gegen einen Sargdeckel zu stoßen. Aber über ihr war nichts. Hinter ihrem Rücken dagegen spürte sie einen Widerstand. Die gefesselten Hände ertasteten eine glatte Fläche, nicht kalt, nicht warm, vermutlich ebenfalls aus Holz. Sie bewegte die Beine – die Unterschenkel nach wie vor verschnürt oder verklebt, auf jeden Fall verbunden. Erst als sie sie Zentimeter für Zentimeter nach hinten schob, wurde ihr das Kribbeln bewusst. Eiskalt fühlten sich die Beine an, ganz steif obendrein. Wie lange war sie schon gefesselt? Sie hielt inne, versuchte sich zu erinnern. Das Kribbeln wurde stärker, besser, sie macht weiter, bewegt sich, bringt die Blutzirkulation wieder in Gang. Doch noch bevor sie die Beine ausgestreckt hat, stießen ihre Füße ans nächste Hindernis. Noch eine Wand, glatt, im rechten Winkel zu der hinter ihrem Rücken. Wie ein Wurm schob sie sich soweit in die Ecke, dass ihre Zehen die Wand hinter ihr berührten. Dann Schwung genommen und sich auf die Knie hochgerollt. Ein dumpfes Rumpeln. War sie das? Einen Augenblick verharrte sie. Nichts geschah. Alles blieb dunkel, unbewegt, still. Also drückte sie den Rücken durch und richtete sich auf. Die Spannung in den Unterschenkeln ließ die breite Fessel dort um so spürbarer werden. Sie ignorierte das, ließ sich mit Rücken und Hinterkopf gegen die Wand sinken. So gestützt musste sie nur noch die Knie anheben und die Fußrücken auf Ballen rollen, und schon war sie in einer halbwegs stabilen Hocke. Sie wand und streckte sich, bis es ihr gelang, mit den Fingerspitzen das Klebeband zu packen, das ihre Unterschenkel umschloss. Sie zerrte und zog, rutschte immer wieder in der Ecke ab, glitt runter, musste sich erneut hochkämpfen. Nach einer Ewigkeit hatte sie wenige Zentimeter des Klebebandes abgerissen. Nicht viel, aber immerhin ein Anfang. Wie ein Terrier arbeitete sie sich an dem Ding ab. Ihre Fingernägel rissen ein. Die Fingerspitzen bluteten, bis Klebereste die Wunden verschlossen. Dass das schmerzte, dass es anstrengend war, dass sie einen Hustenanfall bekam, weil ihr Mund samt Knebel so entsetzlich trocken war, all das registrierte sie nur am Rande. Die Fesseln loszuwerden, erst die Füße zu befreien, dann die Hände, dieses Ziel verlieh ihr Kraft. Und Innehalten, eine Pause, nein, das war nicht drin, unter keinen Umständen. Das schwarze leere Nichts in ihrem Kopf, das auf den Versuch heraufdämmerte, zu erahnen, was geschehen war, musste sie um jeden Preis vermeiden. [….]

Tja. Und wenn Sie nun wissen wollen, was mit meiner Protagonistin geschehen ist, dann sollten Sie sich an den Buchhändler Ihres Verrtauens wenden …

aus: „Die Geisel“ von Mischa Bach,

in: „Küche, Diele, Mord“, hrsg. v. Almuth Heuner,

kbv 2013, ISBN 978-3942446938

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Eine Antwort zu Auf kleinstem Raum

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