Manchmal habe ich seltsame „Anfälle“, was die Auswahl meines Lesefutters angeht. Phasenweise lese ich nur Englisch, dann muss es plötzlich Literatur einer gewissen Periode sein oder es darf alles außer Serienkillerkrimis sein. Jetzt hat es mich zu einer Art „Klassikaufholjagd“ in Sachen Krimis getrieben: Je ein Buch von John Dickinson Carr, S.S. van Dine, Ellery Queen, Ngaio Marsh und John Ball standen auf meinem „Speiseplan.“
Warum schreibt ein Amerikaner wie John Dickinson Carr Krimis, die in London spielen – nur, weil er sich selbst in der Tradition von Doyle & co. sieht? Immerhin, sein Fokalcharakter (oder personaler Erzähler) ist ein amerikanischer Büchernarr und zugleich der Freund seines schon grotesken, aber genialen Ermittlers Dr. Fell. Der Tote im Tower (1933) ist so darauf bedacht, als klassischer Whodunnit daherzu kommen, dass der Plot am Ende so konstruiert und wenig glaubwürdig wie die bis ins Karrikaturenhafte überzeichneten Figuren wirkt. Ich weiß, Carr hat seine Fans und womöglich ist dieses Buch nicht sein bestes – aber ich denke, mehr von ihm brauche ich fürs erste nicht.
S.S. van Dine, ein weiterer Amerikaner der in der Nachfolge von Doyle & Dupin schreibt, hat mich mit seinem 1927 erstmals erschienenDer Mordfall Greene schon eher gefesselt. Zwar interessiert mich auch seine Holmes/Watson-Variation aus Philo Vance und dem Ich-Erzähler nicht allzu sehr, aber immerhin scheinen die anderen Figuren der Geschichte in sich stimmiger und von daher glaubwürdiger, als dies bei Carr der Fall ist. Und selbst, wenn die Auflösung des Plots am Ende doch aufs allseits beliebte „Der Unwahrscheinlichste war’s“ rausläuft, ergab die Geschichte immerhin im Horizont ihrer Entstehungszeit Sinn. Heute würde zwar kaum jemand mehr ernsthaft von kriminellen Persönlichkeiten, die von Generation zu Generation verert werden, sprechen, aber damals passte das in die Zeit. Und zugleich entsteht bei allen genrenotwendigen Überzeichnungen ein farbiges Bild der gehobenen Gesellschaft im New York der späten 1920er.
Hüte spielen in einem weiteren Klassiker, den ich in der letzten Woche las, eine herausragende Rolle, nämlichDer mysteriöse Zylinder von Ellery Queen. Vater und Sohn Queen sind cleverer gewählt als etwa das Ermittler/Beobachter-Duo bei Carr – ein Polizist und ein Krimiautor beschäftigen sich schließlich beide beruflich mit Verbrechen. Dennoch hakt es ein wenig, ausgerechnet Vater und Sohn als zwei Junggessellen zusammen leben zu lassen. Aber vielleicht muss man eine Kriminalschriftstellerin des 20./21. Jahrhunderts sein, um an der Frage kleben zu bleiben, wo ist Mrs. Queen und warum hat sie keinerlei Spuren im Leben ihrer beiden Männer hinterlassen? Der Fall in diesem Buch ist zugleich hochgradig artifiziell und auf die besonders komplizierte Auflösung hin konstruiert, aber auch hier bekommt man eine Menge mit über das New York der späten 1920er. Allerdings bleibt die Schreibe insgesamt zu routiniert, als dass es mich reizen würde, mehr von den beiden Cousins zu lesen, die hinter dem Pseudonym Ellery Queen steckten.
Bei Ngaio Marsh sieht das schon anders aus. Mrs Bellamys großer Tag fühlt sich zwar streckenweise überhaupt nicht an, als spielte es in den 1960ern, in denen es erschienen ist, aber Marsh fängt das Theater und die Menschen, die sich in ihm um es drehen, mit viel Liebe zum Detail ein. Der Fall ist zwar auch ein wenig an den Haaren herbeigezogen, aber das macht ihr Sinn für Ironie am Ende wieder wett. Doch, von der Neuseeländerin würde ich gerne mehr lesen; beim nächsten Mal allerdings vorzugsweise im englischen Original.
Wirklich gefesselt und von Anfang bis Ende fasziniert hat mich John Balls In der Hitze der Nacht, das ich bisher nur als Verfilmung kannte. Es gerade jetzt, parallel zur US-Präsidentschaftswahl zu lesen, war doppelt spannend, machte es um so deutlicher klar, wie nah und fern zugleich die Tage der institutionellen Rassendiskriminierung noch immer sind. Unglaublich präzise beobachtet lotet es gesellschaftliche wie psychologische Tiefen aus, entlarvt und kommentiert dieses Buch, ohne zu werten oder gar abzurteilen – dieser erste Auftritt von Virgil Tibbs in der Weltliteratur hat es in meinen Augen auch nach fast 60 Jahren noch immer in sich. Dieses Buch würde ich glatt auf der Stelle noch einmal lesen – dann aber im Original!