Und die Moral …?

Was ist richtig, was falsch? Kann man das wirklich zweifelfsfrei unterscheiden – und auch noch danach handeln? Was ist mit der Vergangenheit, mit den Entscheidungen, die wir längst gefällt haben, und deren Konsequenzen, allesamt schon zu Erinnerungen geworden – ist das alles überhaupt wahr? Und wenn es das nicht ist, wie kann man dann wissen, was richtig und falsch, eben moralisch oder ethisch war oder auch nur gewesen wäre? Julian Barnes hat sich in seinem Roman The Sense of an Ending mit letzterem, Eric-Emmanuel Schmitt mit seinem Freigeist mit ersterem beschäftigt. Und ich steh mittendrin und weiß nicht wie noch was …

Dabei habe ich doch gar nicht vor, den Plot von Barnes Roman zusammenfassen zu wollen. Auf eine Art ist es ein Bildungsroman – bloß halt, dass kein junger Mensch sich bildet, zu sich findet, sondern ein mittelalter bis älterer Mensch begreift, sein Leben, seine Jugend, die zentralen Erinnerungen und damit die Grundbausteine seiner eigenen Geschichte beruhen auf einer Unwahrheit. Oder mehreren Fehleinschätzungen. Womöglich auch Lügen. Es sei denn, man müsste dem Ich-Erzähler, diesem ganz normalen, schon beinahe langweiligen Durchschnittsmenschen unterstellen, dass er gar nichts dafür kann. Dass er als junger Mensch vielleicht Emotionen und Hormonen ausgeliefert war, die ihn in einer Weise handeln ließen, die er praktisch schon unmittelbar danach ganz anders begriff. Jedenfalls ist an diesem schmalen Roman, der das Gewöhnliche aus einem ganz und gar ungewohnten Blickwinkel so erzählt, das alles bricht, nichts einfach. Und genau deshalb klingt das Buch nach dem Lesen noch so lange nach.

Vielleicht kommt das auch daher, dass mittelalte Menschen der ganz normalen Art selten die ‚Helden‘ von Romanen sind. Oder weil man sich beim Lesen natürlich selbst fragt, wo hat man die eigenen Erinnerungen geschönt und wo weiß man das womöglich gar nicht mehr. Was von dem, was man zu wissen glaubt, stimmt eigentlich? Und ist die ursprüngliche, vielleicht verborgene Absicht wahrer als die, die man später an ihrer Stelle spürt? Hat Wahrheit – und damit auch richtig und falsch – so etwas wie eine Zeit? Ist sie vielleicht relativ, eben vom Zeitpunkt abhängig, wie ja auch die Moral einer Entscheidung nur auf das gründen kann, was im Moment Kenntnisstand ist?

Eric-Emmanuel Schmitts Held Diderot, der sich unvermutet gezwungen sieht, statt sich mit seiner (vermeintlichen) Porträtistin erotisch zu vergnügen, ausgerechnet den Artikel zum Thema Moral für die Enzyklopädie zu schreiben, würde das womöglich bejahen. Flexibel ist seine Moral allemal – wie, man muss es zugeben, das ja bei vielen Menschen der Fall ist. Was man als moralisch betrachtet, muss noch lang nicht das sein, was man selbst tut. Die freiheitlichen Ratschläge etwa, die der Philosoph und Freigeist einer angeblich anonymen jungen Frau in Sachen Liebe erteilt, kippen so amüsant wie unvermeidlich ins krasse Gegenteil, wenn klar wird, den Rat suchte seine eigene Tochter! Plötzlich sind all die gepriesenen Freiheiten verwerflich, jedenfalls nicht mehr gut und keinesfalls das, wonach zu handeln wäre.

Ist Moral vielleicht etwas rein philosophisches – eben ein Gedankenkonstrukt und gar nicht oder nur sehr begrenzt geeignet, menschliches Handeln zu leiten? Wonach handeln wir, wenn wir glauben, nach der Moral zu gehen? Ich weiß nicht mehr, wie der Autor der anarchistischen Moral hieß, die ich als junge Erwachsene las. Ich weiß nicht mal mehr, ob der Autor ein Mann des 18. oder 19. Jahrhunderts war. Aber sein ‚Gleichnis‘ ist mir nie mehr aus dem Kopf gegangen. Es geht ungefähr so:

Man stelle sich drei Menschen vor, A, B und C genannt. Alle drei stehen kurz vorm verhungern. A kommt nun zu einem Stück Brot, mit dem er sich selbst retten könnte. Doch da er B sieht, der in der gleichen, verzweifelten Lage wie er selbst ist, schenkt er diesem sein Brot. Er rettet ihn und gibt sich selbst dem Tod preis.

„Bravo, wie selbstlos und heldenhaft“, rufen die Moralapostel (so ungefähr schildert es der Autor).

Doch dann kommt C des Weges und erblickt B mit dem Brot, das ja nur einen einzigen retten kann. C entreißt B das Brot und rettet so sich selbst.

„Pfui, wie selbstsüchtig und gemein“, schreien die Moralapostel wiederum.

Weder noch, konstatiert der namenlose Autor. Für ihn handeln A und C aus einem ganz ähnlich Gefühl. Alle Lebewesen versuchen Leid zu vermeiden und Glück zu mehren. Nur ist es eben so, dass es für einen Menschen wie A schwerer ist, das Leid eines anderen zu ertragen, als selbst zu leiden (oder gar zu sterben, wie es dieses überspitzte Beispiel will). Und für C liegen die Dinge umgekehrt, d.h. für ihn wäre es das größere Leid, selbst zu sterben, also rettet er sich.

Mit Moral im üblichen Sinne hat weder das eine noch das andere zu tun. Und so stellt sich wiederum die Frage, was ist dieses Ding, woran wir unser Handeln, aber womöglich mehr noch das der anderen messen? Wie ist das mit dem richtig und falsch – sind das überhaupt sinnvolle Begriffe? Würde es nicht passender sein, richtete man sein Handeln danach aus, möglichst anderen nicht zu schaden? Oder muss man ihnen gleich nützen & Gutes tun? Muss man sich selbst überwinden, gar aufgeben, um gut zu sein? Aber was ist wirklich gewonnen, wenn sich der eine für den anderen opfert? Zwinge ich dem so Geretteten oder auch nur Beglückten nicht u.U. die Bürde unabtragbarer Schuld auf?

Ich weiß es nicht. Ich habe keinen absoluten Leitfaden, der mir immer und überall sagen würde, das ist richtig, das falsch, so zu handeln ist gut, dieses zu lassen ist böse. Am Ende ist es mit der Moral wie mit so vielen: Schöner Begriff, schöne Idee, aber im Leben sind die Schritte, die man geht kleiner – und wiegen doch oft genauso schwer.

Wie wunderbar leicht ist dagegen die Lösung die Schmitt seinen Freigeist finden lässt: Moral: Siehe Ethik. – Ethik: Siehe Moral.

 

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