Unzuverlässiges

Es wiegt mit seinen 123 Seiten kaum mehr als ein dickerer Brief, aber Sébastien Japrisots Falle für Aschenbrödel hat es in sich: Klassischer Krimi trifft auf prototypischen Thriller, und am Ende bleibt man als Leser atemlos bis tief verunsichert zurück.

Eine junge Frau wacht mit schwesten Verbrennungen im Krankenhaus auf und weiß weder, was geschehen ist noch wer sie selbst ist. Was auf den ersten Blick als Unfall erscheint, entpuppt sich als Mord. Der eigentliche Skandal, das wirklich aufregende an der Geschichte ist jedoch seine Ich-Erzählerin, die man als auf die absoute Spitze getriebenes Beispiel für eine unzuverlässige Erzählung betrachten kann:
"Ich bin der Detektiv.
Ich bin der Zeuge.
Ich bin der Täter.
Ich bin das Opfer …
Ich bin alles in einer Person.
Wer aber bin ich wirklich?"
Die Antworten, die ihr gegeben werden, die Antworten, die sie sucht, findet, anzweifelt, hin und her wendet, sie gehen nicht auf. Nichts stimmt, nichts passt, und doch gibt es sie. Ohne dass sie es ändern könnte, bleibt alles, was sie sagt, was sie erzählt mit einem Fragezeichen versehen. Japrisot bewies damit 1962 nicht nur, dass der unzuverlässige Erzähler ganz hervorragend zum Kriminalroman wie zum Thriller passt, er zeigt zugleich, wie weit man damit in lezter Konsequenz gehen kann: Verstörend übers Ende hinaus bleibt diese Erzählung, weil ihr Autor sich weigert, die Fragen seiner zur Unzuverlässigkeit verdammten Erzählerin durch irgendeine ganz und gar ‚objektive Instanz‘ letztgültig und erschöpfend zu beantworten.

Womit er sich absolut gegenläufig zu Agatha Christies The Murder of Roger Ackroyd verhält, in dem der unzuverlässige Ich-Erzähler nichts als das scheinbar perfekte Versteck des Mörders darstellt (was wiederum auf eine Art literarischen Taschenspielertrick rausläuft) – und zugleich eine Ahnung aufkommen lässt, was alles noch mit Anne Chaplets Sophie Winter in Schrei nach Stille denkbar gewesen wäre.

Ich finde das alles jedenfalls höchst spannend und bin kurz davor, mich in die Konzeption eines Uniseminars zum Thema "Unzuverlässiger Erzähler in der Kriminalliteratur" zu stürzen. Wobei … einen kleinen Treppenwitz am Rande hätt ich hier noch: Es war ein Student, der mich mit seiner Frage zu Thema & Lektüre brachte. Ein Student, der genau darüber seine Hausarbeit schreiben wollte. Bloß leider hat er heute den Termin für deren Vorbesprechung verpasst … einfach so, Sie wissen schon, ohne Absage oder Entschuldigung … 

Dieser Beitrag wurde unter Schreibkram abgelegt und mit , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert