Bücher können ungefähr so überraschend wie Menschen sein. Der hochgelobte Wilhelm Genazino ging mir schlicht auf den Keks, während mein zweiter Versuch mit David Nicholls unerwartet unterhaltsam war. Deborah Crombie ein weiteres Mal zu lesen, hatte dagegen etwas davon, eine Bekanntschaft zur möglichen Freundschaft zu vertiefen. Und wer hätte damit gerechnet, dass meine Krimiautorenkollegin Britt Reißmann auch eine Kinderbuchautorin ist?
Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz – das ist ein Titel, über den ich stolpere. Allerdings bezweifel ich, dass ich dieses Buch gekauft hätte, hätte ich nicht gewusst, dass sein Autor Genazino der erklärte Lieblingsschriftsteller einer guten Freundin ist, und wäre mir dieses Buch nicht höchst kostengünstig in einem Antiquariat begegnet. "Ausgerechenet das!", rief meine Freundin sinngemäß aus, als ich von dem Kauf berichtete. "Das ist sein schwächstes Buch!"
Das will ich schwer hoffen. Zu allererst ist es ein Etikettenschwindel: von wegen "Roman"! "Gesammelte Zufallsbeobachtungen" hätte man es nennen können, meinethalben auch "Fragmente". Aber Roman impliziert eine große Erzählung, und erzählt wird in dem Buch höchstens versehentlich auf der Ebene der Beobachtungssplitter, jedoch ganz gewiss nicht in Form eines das gesamte Werk überspannenden Bogens.
Dann dieser nervtötende Ich-Erzähler: Einerseits versucht er krampfhaft und mit allen Mitteln gestelzter Sprache, sich die Welt durch penentrantes Beschreiben seiner Alltags- und Reisebeobachtungen vom Hals zu halten. So wird der Leser geradezu distanzlos überschwemmt mit Einzelheiten aus einer fremden Wahrnehmung, auf die ich zumindest wenig wert lege. Andererseits unternimmt dieses "Ich" keinerlei Versuch, sich selbst zu zeichnen, sei es nun als eigenständige Figur oder als "Mundstück" seines Autors. Ergo liest man all diese prätentiösen, so sehr auf die eigene Andersartigkeit bedachten Eindrücke als die des Autors selbst — was soll das? Und die fehlende Einbindung in eine Geschichte, eine Erzählung, einen größeren Zusammenhang eben, führt für mich dazu, dass alle präsentierten Beobachtungen, seien sie gelungen (auch das kommt vor) oder banal, in kürzester Zeit vergessen sind. Eine Sammlung belangloser Details, die obendrein schlecht lektoriert wurde. Ein guter Lektor hätte Genazino aufmerksam gemacht, dass "gefallen" das Lieblingswort des Buches ist, und in einer Penetranz auftaucht, dass man als Leser im Hinterkopf schon anfängt, etymologische Studien zu den verschiedenen Konnotationen, Denotationen, Assoziationen all der Bedeutungs- und Begriffsvarianten der Buchstabenkombination zu treiben. Dumm nur, dass Genazino "gefallen" in nur einer Bedeutung, nämlich als "etwas gefällt mir" verwendet … kurzum: ohne die Fürsprache meiner Freundin wäre dies mein erstes und letztes Buch des Autors gewesen. So wage ich einen zweiten Versuch. Irgendwann.
Höchst skeptisch ging ich an meine zweite Runde mit David Nicholls. Ewig zweiter hatte mich nur genervt, würde ich Keine weiteren Fragen also womöglich wutenetbrannt lediglich angelesen aus dem Fenster eines fahrenden Zuges werfen? Nein, ich las es im Zug aus und schenke es dann dem netten Bistrowagenmenschen. Wahrscheinlich würde es mehr Sinn machen, die englische Fassung Starter for Ten gelesen zu haben. Aber auch so war es eine amüsante Lektüre. Zwar ohne jeden Tiefgang, doch dafür auch ohne größeres Ärgernis. Und das kann man wahrlich nicht über jeden Reisebegleiter, sei er Mensch oder Buch, sagen.
Einen dritten Nicholls würde ich dennoch höchstens noch geschenkt und dann im Original lesen (Lebenszeit ist begrenzt, und das wiederum begrenzt die Lesezeit …). Von Deborah Crombie dagegen wartet bereits das dritte Buch neben meinem Bett. Böses Erwachen las ich mit großer Spannung auf dem Rückweg von Wiesbaden im Zug. Kein literarisches Meisterwerk, doch ein gut gebauter Kriminalroman der britischen Art, bei dem man nebenbei eine Menge über Tee und so manches über englische Geschichte im zweiten Weltkrieg lernt. Das Erzählen über zwei Zeitebenen scheint Crombie zu liegen (noch weiß ich ja nicht, ob sie das immer so macht, doch das würde mich weder wundern noch abschrecken, eher im Gegenteil) und ich bin entzückt, dass da jemand einen dicken, fetten Krimi mit nur einer Leiche (okay, drei, wenn man die zweite Zeitebene berücksichtigt) erzählen kann. Für die Spannung braucht es weder blutige Details noch Steigerungen von Grausamkeiten durch mehrfache Morde. Sprich: Entweder man hat’s drauf oder nicht, und Deborah Crombie gehört mit Sicherheit zur ersten Kategorie. Ergo bin ich gespannt auf mehr …
Britt Reißmanns Erstling war ein Kinderbuch: Der Brunnen der vergessenen Träume heißt es, und sie hat es nicht nur geschrieben, sondern obendrein auch noch die Illustrationen gemacht. Allein für die lohnt sich das Buch. Die Geschichte selbst dürfte eine wunderbare Vorlese-Gute-Nacht-Geschichte sein – eben ein Buch, das Erwachsene und Kinder am Bettrand wie an der Grenze von Fantasie und Realität zusammenbringt.
Mich hat es daran erinnert, dass ich nicht mehr weiß, wie es war, vorgelesen zu bekommen. Ich erinnere mich an Erzählungen meiner Eltern, nach denen ich als Kleinind die Geschichten schon auswendig kannte, so dass ich "vorlesen gespielt habe", um mich dann als Schulkind zeitweilig zu weigern, selbst zu lesen, weil ich lieber vorgelesen bekommen wollte. Ich habe eine vage Ahnung von Lurchi-Bilderbüchern (die gab es vor ewigen Zeiten bei Salamander. Komisch, dass ich bis heute Buchläden liebe, es aber hasse, Schuhe kaufen zu müssen – vielleicht sollten sie einfach anfangen, dort auch Bücher für Erwachsene anzubieten?!), könnte wohl Farben und Stil der Bilder nachahmen und würde wahrscheinlich auch die eine oder andere Geschichte beim wiederlesen wiedererkennen.
Was mir aber fehlt, ist auch nur ein Fetzen Erinnerung an die Lesestimme meiner Mutter (oder auch die meines Vaters, oder hat er mir nie vorgelesen?), daran, wie es gewesen sein muss, einzuschlafen, während jemand am Bett sitzt und liest. Oder gab es das nicht in meinem Kinderleben? Ich weiß es nicht. Und das macht mich traurig … auch so eine Überraschung beim Lesen.
Auf den zweiten Blick
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„Witzig“ – hab ich nich vor kurzem im Buchladen eine neue Ausgabe der Lurchi-Bände entdeckt!!!???
Und: also ich kenn „Der Brunnen der vergessenen Träume“ auch (es ist schööön! Weiß ich deshalb, weil ich es mir selbst vorgelesen habe ;-)…). Ja, vorgelesen bekommen ist ne tolle Sache…