Idylle vor Ort

Letzten Montag in Leer: Mitten in der Pause der Lesung aus Rattes Gift bei den OstFriesischen Krimitagen tritt eine ältere Dame an mich heran und befragt mich ernsthaft zu meiner Beziehung zu Friesland und vor allem zum Städtchen Leer. Ob ich sicher sei, dass es "so etwas" hier wirklich geben würde – ich vermute, sie meinte Dealer und Drogenhandel, Schmuggel und Korruption, und nicht die Punker mit ihren Hunden, aber womöglich jedwede Friesen mit Sucht- bzw. BTMG-Problemen. Was soll man dazu sagen?

Ich war baff, im ersten Moment sprachlos. So viel Naivität! Das Böse, das Unbekannte, was Angst macht, gefährlich, verboten ist, all das, was nicht sein kann, weil’s nicht sein darf – na, das kann eserst recht nicht vor der eigenen Haustür geben oder was?
Immerhin, diese Dame fragte nach. Sie ließ sich auf ein Gespräch, aufs Buch und nicht zuletzt aufs eigene Nachdenken ein. Das dürfte mehr sein, als man von den meisten erwarten kann.
Dennoch nimmt’s mich umgekehrt Wunder, dass es offensichtlich eine beachtliche Zahl von Menschen gibt, die an die real existierende Idylle glaubt und diese direkt vor der eigenen Haustür vermutet. Das ist einerseits rührend. Andererseits ganz schön verrückt, erst recht wenn ein Abend wie der in Leer zeigt, unter diesen ganz besonderen Optimisten (Euphemisten? Idyllanten? Wie auch immer) gibt es solche, die zugleich Regionalkrimiliebhaber sind.
Das ist doch mindestens so verrückt wie ich, die ich mich an dem Label aufreibe, damit hadere, mich drin verstricke und dennoch zulasse, dass auf meinem neuesten Buch "Ostfrieslandkrimi" steht.
Truth is stranger than fiction, das steht mal fest.

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5 Antworten zu Idylle vor Ort

  1. moni sagt:

    ist es nicht so, dass man sich in der „Idylle“ sicher wiegt, eben weil alles so friedlich erscheint? Dass man Verwahrlosung und dunkle Ecken nicht wahrnehmen _will_? Dass man glaubt „das kann hier bei uns im Dorf nicht passieren“ (wobei Leer ja eine Stadt ist, kein Dorf) weil man meint, man kennt die Leute? Und doch, wieviele kennt man wirklich und weiss, was sich hinter den zugezogenen Vorhängen abends abspielt…? Wer weiss, was der Lehrer/Wirt/Bauer/Verkäufer/Nachbar ohne unser Wissen so alles macht, angefangen beim Bankmanager, der abends gerne die Strümpfe seiner Frau trägt bis hin zum unscheinbaren Obstverkäufer, der mit seiner Stieftochter Kinder hat…
    Und: wollen wir uns in Wahrheit nicht alle im Fernsehen und in Büchern die Schlechtigkeit der Menschen ansehen bzw. davon lesen, nur um froh zu sein, dass genau das nicht bei uns passieren kann? Und dann schreibt da jemand über Punker, Drogensüchtige und Mord und Totschlag genau in unserem Dorf… Nee, in Leer vielleicht, aber bei uns sicher nicht… :o)

  2. Britt sagt:

    Zitat: „Das ist doch mindestens so verrückt wie ich, die ich mich an dem Label aufreibe, damit hadere, mich drin verstricke und dennoch zulasse, dass auf meinem neuesten Buch „Ostfrieslandkrimi“ steht.“

    Falls es dich tröstet: Damit stehst du nicht allein da. 😉

    Und was die alte Dame betrifft: Es ist nie zu spät, dazuzulernen, oder?
    Wenn die Theorie stimmt, dass wir aus unserer Umwelt nur das anziehen, wozu wir eine Affinität haben, dann muss die alte Dame offensichtlich ein sehr braves Leben geführt haben. Und versucht nun, mit der Lektüre von Regiokrimis einen Ausgleich dazu zu finden. Irgendwie auch logisch, oder?

  3. mischa sagt:

    naja … was mich wundert: die idylle mit dem abgrund dahinter scheint mir inzwischen ebenso „alt“ wie das bild von der im paradies ‚versteckten‘ schlange. mir kommt es gelegentlich fast banal bis abgedroschen vor, damit zu arbeiten. aber für menschen wie diese dame in leer scheint das ein neuer gedanke zu sein. nun ja. wahrscheinlich habt ihr beide recht. verdrängung ist die beste scheuklappe 😉 dann ich verdräng jetzt mal, dass mein staunen auch das erstaunen darüber ist, was für sanfte leben manche haben …

  4. Ingrid sagt:

    zu: „Ob ich sicher sei, dass es „so etwas“ hier wirklich geben würde…“
    Ich glaube, das ist ein Fall von/bzw. verwandt mit „No Monsters here“-Denken, wie es ein Profiler mal nannte. Dass nämlich die meisten Menschen bei schlimmen Verbrechen (Mord, Vergewaltigung) glauben, der unbekannte Täter stamme nicht aus der direkten Umgebung (Non Monster here), sondern müsse weiter weg wohnen, vielleicht sozusagen auf der Durchreise sein. Angeblich sind selbst viele Polizisten nicht völlig dagegen gefeit. Vielleicht ist es ein durchaus verständlicher psychischer Schutzmechanismus.

  5. m. sagt:

    Hallo Ingrid – kann das leider nur bestätigen. Originalzitat Polizei nach einem nächtlichen tätlichen Angriff (erste Einvernahme drei Tage nach dem Zwischenfall): „Falls das stimmt, was Sie sagen, ist der Kerl schon wieder über alle Berge. Da brauchen wir gar nicht erst beginnen zu ermitteln.“ Auf die Idee, dass er oder sie aus dem Ort ist, kamen sie nicht, bzw. ließen auch meinen Verdacht in die Richtung nicht zu…

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