"Lesereise" ist für mich ein doppeldeutiges Wort. Wenn ich reise, lese ich – erst recht, wenn ich auf Lesereise gehe, denn dann verbringe ich oftmals Stunden allein im Zug und ggf. schlaflos ebensolche im Hotel. Und die ZEIT ist zwar ein Schwergewicht (aber dennoch ein guter Reisebegleiter, denn von Seite zu Seite reist es sich leichter), doch allein mit ihr komm ich nicht aus. In den letzten 21 Tagen sammelten sich so fünfeinhalb Bücher an, und zwar von Marc van Allen, Deborah Crombie, Robert Hültner, Mikael Niemi, Marina Picasso und Juli Zeh. Tja und das sind die Gedanken, die von dieser Lektüre übrig blieben …
Marc van Allens Invisibilis ist das halbe der fünfeinhalb Bücher. Beim besten Willen und selbst in völliger Ermangelung alternativer Lektüre konnte ich diesen Schrott nicht zuende lesen. Irgendwo diesseits von Seite 100 brach ich den Selbstversuch in Sachen verschwörungstheoretischer Schwachsinn gepaart mit albern-langweiligen SF- und Fantasy-Elementen entnervt ab und starrte lieber die letzen 45 Minuten aus dem ausnahmsweise sauberen Fenster des Regionalexpress nach Neuwied. Gezüchtete Unsichtbare als Ergebnis eines der letzten U-Boot-Versuche des Nazireichs, die natürlich für sämtliche unklare bis ungeklärte Attentate von Kennedy bis ich weiß auch nicht mehr wer noch verantwortlich sind, nee, also, das muss ich nicht haben. Schon gar nicht in einem Buch, dass sich als ‚kenntnisreicher Thriller eines Insiders‘ verkaufen will. Altpapier ist noch zu gut für diesen Mist …
Deborah Crombies Der Rache kaltes Schwert las sich immerhin spannend und hatte überdies zufällig einen zu meiner Ratte passenden Nebenstrang. Außerdem gefällt mir, wie es neben dem Fall (übrigens ein Serienkriminalfall) die Geschichte des Londoner Stadtteils Nottinghill erzählte … Lokalkolorit und -historie kann durchaus bereichernd und literarisch sinnvoll sein. Okay, es hat logische Brüche und ich kann’s immer noch nicht leiden, wenn "verrückt" als Diagnose und zugleich als alles erklärendes Mordmotiv missbraucht wird. Dennoch, das Buch hat mich gut unterhalten, was will man mehr? Somit landete es auch nicht im Müll der Bahn sondern ich wilderte es aus, und hoffe, es hat inzwischen weitere, interessierte Leser gefunden.
Robert Hültners Die Godin wäre wahrscheinlich auch ein Buch zum auswildern gewesen (was bei mir heißt: ich lasse ein Buch mit einem entsprechenden Hinweis an einem öffentlich zugänglichen, witterungeschützten Ort liegen), allein, ich las es aus, als ich schon wieder zuhause war. Lokalkolorit und -geschichte bietet dieser im München der 1920er angesiedelte Kriminalroman allemal. Allerdings mäandert die Geschichte zwischendrin so sehr zwischen den verschiedenen Strängen und Blickwinkeln, eben allen möglichen Figuren hin und her, dass man in Gefahr gerät, die Hauptfigur, den ehemaligen Gendarm Paul Katejan, gänzlich aus den Augen zu verlieren. Und ich hab festgestellt, für mich ist Bayern weder eine Region, in der ich leben könnte, noch ein Literaturumfeld, das sich mir einfach erschließt. Das liegt mir nicht, schon gar nicht nahe, das macht das Lesen mühevoll, ohne dass ich genau sagen könnte, warum. Aber schlecht war das Buch von Hültner wohl kaum …
Marina Picassos Und trotzdem eine Picasso trägt den Untertitel "Leben im Schatten meines Großvaters" und genau darum geht es auch. Das Malergenie Picasso als Großvater, Vater, Liebhaber, Ehemann, eben Mit-Mensch eine Katastrophe, so der Tenor des Buches. Warum sollte Genie auf einem Gebiet auch bedeuten, dass der dazugehörige Mensch als solcher besser ist als seine Zeitgenossen? Was von außen eine logische Erkenntnis ist, war für Marina und ihren Bruder Pablo, der erst nach dem Selbstmord diesen seinen Namen statt der Verkleinerungsform Pablito tragen durfte, lebensbestimmend oder vielmehr: kindheitseinschränkend. Aufgewachsen mit dem großen, übergroßen Namen und dem Vorurteil, eine Picasso müsse reich sein, litten sie doch unter Armut – gerade dank Großvater Pablo und der Verstrickung ihrer beider Eltern in den Mythos … Sonst bin ich ja kein Fan von Autobiographien, aber diese las ich mit Spannung und ich vermute, man muss dafür kein sonderlicher Kunstkenner sein.
Noch viel mehr lernte ich jedoch aus einem Roman, nämlich aus Der Mann, der starb wie ein Lachs von Mikael Niemi. Was für ein Buch …! Es fängt an, als sei es ein Krimi: Eine Toter, gräßlich zugerichtet, wird gefunden. Aus Stockholm wird die Kommissarin Therese an den Tatort in den hohen Norden Schwedens, im Tornedal gerufen. Es gibt Ermittlung samt Kollegen und sogar falsche und nicht ganz so falsche Verdächtige. Mordmotive werden ausgegraben, weitere Verbrechen anderer Täter entdeckt. Zugleich geht es jedoch um Sprache und Identität, um Landesgeschichte und persönliche Geschichten. Ich wusste bis zu diesem Buch nicht, dass es Finnisch sprechende Schweden gibt bzw. dass dieses Finnisch im Tornedal ein eigener Dialekt ist, der um seine Anerkennung als vollständige, vollwertige Sprache kämpft. Sprachkampf als zentraler Punkt eigenständiger Kultur und Identität – geleugnete "andere", fast so etwas wie schwedische Katalanen oder Basken, bloß weniger organisiert in ihrem weniger gewalttätigen Widerstand gegen eine gleichgültige bis ablehnende Mehrheit von "Südschweden". Nein, kulturelle und soziale Spannungen dieses Kalibers hätte ich Schweden nicht gegeben. Und einen Krimi, der gar nicht depressiv, sondern eher kämpferisch, zwischendrin aber auch komisch bis erotisch daherkommt, hätte ich so schnell im Land der Depri-Kriminalschriftsteller auch nicht erwartet. Also, wenn mir noch ein Buch dieses gänzlich undepressiven Schweden begegnet, würde mich das sehr freuen …
Zum Schluss Juli Zeh und ihr Spieltrieb. Ach ja. Da schwingt Horvaths Jugend ohne Gott mit, der Professor Unrat ebenso, dazu Nabokovs Lolita und Musils Mann ohne Eigenschaften sowie gewiss noch andere Werke der Weltliteratur, die genannt wie die letzten beiden oder ungenannt wie erstere sich sozusagen als Patinnen diesem Buchkind gleich den Feen im Märchen zugesellen sollen. Netter Versuch. Juli Zeh hat gewiss Talent und Ideen, sie ist gebildet, belesen und spielt selbst gern mit Metaphern sowie mit ihrer Erzählung Gott – bloß das gelingt nicht immer.
Ein Skandal soll sich in dem Buch verbergen, bloß, welcher? Ist das hier die 87. Wiederauflage der sogenannten Wertedebatte im literarischen Gewand? Ada (ach, auch Byron steht Pate!) ein 14jähriges hochbegabtes jedoch eher asoziales Wesen tut sich mit Alev, einem Halbägypter mit nicht näher bezeichneter Wahnvorstellung aus lauter wertefreier nihilistisch-spieltheoretisch fundierter Langeweile zusammen, um zum Zeitvertreib den polnischstämmigen Deutsch- und Sportlehrer Smutek zu verführen und somit erpressbar zu machen. Der schlägt am Ende Alev zusammen, wird aber freigesprochen, was auch nicht interessiert, denn Ada und Alev betonen ja immer wieder und wieder auf diesen über 500 Seiten, dass sie mit Gesellschaft, Normen, Grenzen, Gerechtigkeit und all dem Zeug nichts am Hut haben, weil sie an nichts glauben, sondern ihnen alles gleich gültig ist.
So what? Erzählerisch ist das Ding zusammengewürfelt. Erst mag der Ich-Erzähler sich nicht identifizieren, hinterher ist es ganz offen die Richterin, die kalte Sophie – wohl, weil sich das hübsch in den Manierismus der letzten Kapitel fügt, die vorgeblich aus Sicht der Eisheiligen, also des Datums und des Wetters erzählt werden. Nee klar. Und das nennt man dann Kunst, genau wie der "Tabubruch" der nichtsglaubenden Spiel-Kinder von der Kritik gleichsam als Allegorie auf die böse, böse Wirklichkeit der schlimmen, schlimmen Jugend von heute gelesen wird.
Ich bin befremdet. Figuren, die ihre Autoren nur mäßig interessieren, bleiben zumeist Papier. Papiergeschöpfe die über anderes Papier, nämlich allerlei aufgelesene Philosophien und Theorien schwafeln, kratzen mich kaum. Wie mich das aufwühlen und packen sollte, wo darin das "helle Bild unseres dunklen Zeitalters" liegen sollte, was die ZEIT konstatierte, müsste man mir schon erklären. Aber besser, man lässt es. Die 566 Seiten Lektüre haben mir zu dem Thema gereicht.
Allerdings halt ich jetzt Ausschau nach einem anderen Buch von Juli Zeh. Immerhin schreibt sie eigen, anders, und vielleicht gibt’sja ein anderes Werk, das nicht nur so vor Zitaten und Zitierfähigem, Metaphorischem und anderem Sekundären strotzt? Ich wäre entzückt.
Aufgelesenes
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„Der Rache kaltes Schwert“ ist der achte Band der Reihe. Falls du noch Interesse an dem einen oder anderen anderen hast, melden :o)
Sind einige sehr interessante dabei. Vor allem das über Tee könnte dir gefallen. lG moni
sehen wir uns nicht demnächst – und bin ich dann nicht wiederum lese-reisend? *flöt* *grins* *winkmitzaunpfählen* tee kann man immer brauchen … *ooommmmm* 😉