Ein rotes Viereck, fast quadratisch, dank weißer Begrenzungslinien rechts und links erinnert es ein bisschen an einen Tenniscourt, ganz hinten eine riesige Leinwand, dazwischen leerer Raum – so sieht Theben in Essen aus, so hat Dirk Thiele die Bühne für David Böschs Antigone angelegt.
Okay, laut Programmheft ist es die Antigone von Sophokles, ergänzt durch Textpassagen aus der Anouilh-Fassung. Das trifft’s und trifft’s nicht. Denn wenn man das Original liest (oder auch nur die Übersetzung des Originals, ich kann nun mal kein Altgriechisch), hat man verdammt lang zu lesen. David Bösch jedoch reichen knapp anderhalb Stunden, um die Geschichte der Ödipus-Tochter Antigone zu erzählen, der die Liebe zum toten Bruder respektive göttliches Gebot mehr wert ist als ihr eigenes Leben oder gar Kreons Gesetze. Und dabei findet er noch Zeit, Ismene (Barbara Hirt) ihrer todessehnsüchtigen, womöglich pubertär-rebellierenden, zugleich stur-idealistischen ("Ich muss den Unteren länger gefallen als den Menschen") Schwester Antigone (Sarah Viktoria Frick) Sätze entgegenschleudern zu lassen wie "Kauf dir doch ein Che-Guevara-T-Shirt" und "Dann bring dich doch um. Und später drehen Guido Knopp und Bernd Eichinger einen Film darüber".
Ist der rote Bühnenteppich also der rote Teppich, über den die Stars schreiten, die Leinwand dahinter halb Kinoleinwand, halb Projektionsfläche des kollektiven Unterbewusstseins? Dazu würden die Spots passen. Und anfangs flackern lauter tote Popikonen, von James Dean bis Marilyn Monroe übers weiße Viereck, das später immer wieder zum Videofamilienalbum der Labdakiden wird. Königskinder, Inzestkinder, letzte Überlebende, die nur noch einander zu haben scheinen und doch im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Nicht umsonst werfen Kreon (Holger Kunkel) und selbst Ismene Antigone immer wieder Hochmut vor …
Zugleich ist der rote Teppich naheliegenderweise auch das blutige Schlachtfeld, auf dem Ödipus‘ Söhne Eteokles (Nicola Mastroberardino) und Polineykes (Lukas Graser) einander gegenseitig im (Bürger)Krieg erschlagen haben. Doch Bösch lässt die Toten nicht nur wieder und wieder auferstehen, er gibt ihnen viele Rollen – sie sind der Chor (das Gewissen oder doch Freuds Über-Ich?), die Wächter (Erfüllungsgehilfen für jeden Herrscher) und obendrein der Seher Teiresias (irgendjemand muss ja selbst Kreon, dem Herrscher, die Wahrheit mal so sagen, dass er zuhört). Ich mag’s, und das nicht nur, weil man den beiden Schauspielern gut und gern zuschaut. Ich mag’s vor allem, weil mir die zugrundeliegende ‚Beschränkung auf das Wesentliche‘ liegt.
Das mögen andere anders sehen. Klassikfans vermissen womöglich jede Menge Text aus dem Original, reagieren irritiert auf Karsten Riedels E-Gitarren-Version von "Carmina Burana" oder stören sich an RAF- und anderen Rebellenposen (die doch als solche auch entlarvt werden). Mag sein. Ich z.B. hätte nicht jedes Video (Bibi Abel), das mir Erinnerungen und Träume Antigones und ihrer Geschwister zeigt, gebraucht, aber das ist Geschmackssache.
Spannend ist für mich nicht nur aber ganz besonders bei Klassiker-Inszenierungen, was der jeweilige Regisseur in dem Stoff sieht. Dass Bösch sich so konsequent auf die Familiengeschichte der Labdakiden konzentriert, ist ein interessanter Ansatz, auf den ich so nicht gekommen wär. Und genau deshalb mag ich’s …
P.S.: Seltsamer Nebeneffekt des Ganzen: Ich suche meine Antigone-Texte. Wer hat meine Sophokles- und wer meine Anouihl-Version gesehen?!
Danke für die Rezension 🙂