Ein kollektiver Traum, das ist Theater für mich. Was merkwürdig ist, denn meine eigenen Träume, also die, die meinen Schlaf begleiten, sind Kopfkino für mich. Aber wenn ich ins Theater gehe, dann ist das eine Einladung zum kollektiven Träumen.
Ich sitze mit all den anderen Menschen im Saal. Es ist egal, ob um mich herum lauter Leute sitzen, die ich kenne, oder ob ich alleine bin, mir alle andern unbekannt sind. Wenn das Saallicht verlöscht, verschwinden sie im Dunkel, werden wir alle zu einer anonymen Masse unsichtbarer Träumer. Sichtbar ist allein das, was auf der Bühne geschieht. Wie ein Traum, wo ich mich als Träumer ja auch nicht selbst sehe oder fühle, wie ich da im Bett liege und träume. Auch da seh ich nur, was mein Unterbewusstsein mir zeigt. Im Theater seh ich, was Regisseur und Autor, Bühnen- und Kostümbildner und natürlich die Schauspieler geschaffen haben. Doch auch für sie gilt dabei nicht die Logik des Tages, sondern – so will es mir scheinen – die Dramaturgie des Traumes. An den Schauspielern wird es offensichtlich, sind sie auf der Bühne doch einerseits immer noch sie selbst, eben wach, sich ihrer selbst bewusst. Andererseits sind sie die Rolle, Teil des Traumes.
Was für das Publikum ein kollektiver Traum ist, wird für die Beteiligten ein luzider Traum. Und über diesen Traum, das gemeinsam Erleben von – Etwas, einer Geschichte, einer Entwicklung, was auch immer, denn oft sind Träume wie Theaterstücke nicht so einfach mit einem einzigen Begriff zu charakterisieren – lässt sich auch ein Teil der gesellschaftlichen Funktion des Theaters beschreiben. Wir träumen gemeinsam, wir – das Publikum und die Kunst (und die Technik und alle anderen, die das Erlebnis möglich machen) – teilen Visionen, Utopien, Albträume. Wir sehen andere Wirklichkeiten oder durch andere Augen auf die unsere. Etwas pathetisch und überhöht könnte man sagen, im Theater träumt die Gesellschaft sich selbst und kann dabei nicht nur Zukunftsvisionen entwickeln, sondern auch in Abgründe schauen, der sie im Wachen, im sogenannten realen Leben, stets ausweichen würden.
Nun denn, das ist Theater als Traum für mich als Zuschauer. Wo bin ich da als Autor? Mittendrin und doch nicht dabei wie ein luzider Träumer. Wie ein Mensch, der im Traum erkannt hat, das er träumt, und dadurch nun das Traumgeschehen steuern kann. Das wäre eine Möglichkeit. Trifft’s aber nur zum Teil. Denn ein Stück beginnt für mich mit einer Stimme im Dunkel. Auf der Bühne in meinem Hinterkopf oder wo immer meine kreativen Gedanken sich befinden, wenn sie sich auf den Weg zur Oberfläche machen, höre ich eine Stimme. Mit diesem potenziellen ersten Satz (der sich im Verlauf der Arbeit als vorletzter Satz herausttellen kann oder auch als Samenkorn, das hinterher im Ganzen verschwunden ist) fängt es an. Ich versuche herauszufinden, was dahintersteckt, wer dahintersteckt und hinterlasse bei dieser meiner Suche Spuren in Form von Text. Figuren entstehen, die weitere (Text)Spuren ziehen. Aus all diesen Spuren baue ich – oder baut sich? – die Geschichte auf, entsteht der Handlungsbogen, die Dramaturgie. Vieles davon ist ein sehr bewusster Prozess. Manches reines Handwerk. Am Ende steht ein Stück, das ich gewissermaßen halb geschaffen, halb geträumt hab. Man darf nicht vergessen, Autoren sind immer auch die ersten Leser, Hörer, Zuschauer ihrer Arbeit … und beim Theater sind wir das sogar doppelt: Wenn der eigene Text vom Regieteam & den Schauspielern auf der Bühne zum Leben erweckt wird, ist das so, als könnte man zum allerersten Mal komplett aus diesem Traum, dem, was man da geschaffen hat, heraustreten und das Ganze mit fremden und zugleich den eigenen Augen sehen. Und plötzlich ist man mitten im kollektiven Traum namens Theater, man sieht, wie der Regisseur das eigene Stück sah, und erlebt zugleich mit, wie das Publikum diese Arbeit und die der Schauspieler wahrnimmt. Und um das Gefühl zu beschreiben, das dabei in mir entsteht, nun ja, wahrscheinlich müsste ich darüber mal ein Stück schreiben. So, mit Alltagssprache und realitätsdominierter Logik im Wachzustand, so einfach lässt sich das nämlich nicht sagen. Träumen Sie schön … oder gehen Sie wenigstens mal wieder ins Theater. 😉
Ein luzider Traum
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Ein faszinierender Gedanke. Daran habe ich noch nie gedacht, dass Theater schreiben, spielen und ansehen Teilnahme an einem kollektiven Traum ist! Dabei liegt das eigentlich auf der Hand, ja!
Ich hab mich gewundert, dass ich über 20 Jahre mit dem Theatervirus infiziert sein musste und obendrein diverse Bösch-Inszenierungen aus der Zuschauerperspektive brauchte, um auf diesen Traum-Gedanken zu kommen. Denn Du hast recht: Er liegt auf der Hand. Vielleicht hätt ich da einfach früher nachsehen sollen …? 😉