Eigentlich sind Jahresrückblicke gar nicht mein Ding, weil da nur wiedergekäut wird, was in den vergangenen zwölf Monaten ohnehin in den Nachrichten war. Und 2020 ist wahrlich kein Jahr, auf dessen Nachrichten man zurückblicken möchte, denn irgendwie schien alles auf die eine oder andere Art aus COVID-19 zu bestehen. Aber wie sah’s in meinem Leben aus, so ganz persönlich? Was gab es da noch? Ich mache mich also auf eine kleine, höchst subjektive Zeitreise …
Januar
Das neue Jahr kommt als neues Jahrzehnt, dabei reden alle von den Roaring Twenties, schauen also mit Faszination, Angstlust und viel Ausdauer ein ganzes Jahrhundert zurück.
Mein 2020 beginnt ruhig und unspektakulär und diesmal geht es gleich im Januar mit meiner Autorenpatenschaft los: Die erste Begegnung zwischen Eva, den Kids an der Christiane-Herzog-Schule in Bendorf-Sayn und mir verspricht, der Auftakt einer ziemlich coolen Workshopreihe unter dem Motto „Alles so anders hier“ zu werden.
Ich lese „Where the Crawdads Sing“ und „There There“ sowie noch ein paar andere Sachen, an denen ich aber noch länger Freude haben werde, wie etwa „The Portable Dorothy Parker“, bei dem das Verhältnis von Titel und Umfang des Buches ganz wunderbar zur eleganten Ironie der Parker passt. Das „Dover Quartett“ in der Philharmonie spielt zwar leider wegen Krankheit eines Ensemblemitglieds doch nicht, wie von mir erhofft, Schostakowitsch, sondern Mozart, Beethoven und Brahms, begeistert mich aber restlos. Und dabei ahne ich an der Stelle nicht einmal, dass es mein letztes Live-Konzert des Jahres werden wird.
Denn noch ist COVID-19 schlicht eine Nachricht aus China, mehr nicht, jedenfalls nicht in meiner Erinnerung. Dafür fürchte ich mich vor dem Mai, wenn wir ein neues Dach bekommen werden, und bin auf der Suche nach Co-Working-Spaces und anderen Ausweichmöglichkeiten.
Februar
Eine Ewigkeit, nachdem mir die Verfilmung als missglücktes Perspektivenexperiment begegnete, lese ich Raymond Chandlers „The Lady in the Lake“ und freue mich über meinen Zufallsfund „Cassandra at the Wedding“ von Dorothy Baker, den ich der Dummheit eines Algorithmus‘ verdanke.
„Kleiner Mann – was nun?“ hat im Grillo-Theater Premiere und knüpft an das Jahrhundertrückblickding des Jahreswechsels an. Ich frage mich mal wieder, warum man im Theater seit ein paar Jahren lieber Romane dramatisiert (mehr oder weniger gekonnt dramatisiert), statt Stücke von Dramatikern zu spielen. Und ob das allein der Grund gewesen sein mag, warum der Abend zwar nicht schlecht war, aber mich doch ratlos, mit einem schalen Geschmack zurückließ.
Corona rückt näher, ist inzwischen in Europa angekommen. Aber noch wundert es mich, dass auch unsere Kids in den Workshops bereits darüber sprechen
Noch mehr wundere ich mich allerdings über meine Augen. Morgens brauche ich mehr als ein Blinzeln, bis ich die Welt fokussieren kann, und meine Lesebrille/n passt/en nicht mehr richtig. Anscheinend hat sich da etwas schneller verändert als erwartet, meint meine Optikerin, aber bevor wir etwas unternehmen, warten wir besser meinen Kontrolltermin in der Augenklinik und beim Endokrinologen ab. Morbus Basedow lässt grüßen … auf Dauer werden meine Schilddrüse und ich wohl getrennte Wege gehen müssen, heißt es, und ich beginne, mich auf eine OP im Spätsommer/Frühherbst einzurichten.
März
Alles eskaliert: die Kids in der Autorenpatenschaft wünschen Corona zu Monatsbeginn zum Teufel, doch das reicht leider nicht, und so müssen wir alle ab Monatsmitte in den Lockdown. Einen Tag nach dem 80. Geburtstag meiner Mutter – im kleinsten Kreis mit Abstand im Restaurant gefeiert, schon ohne Umarmungen, was sich so seltsam, so falsch anfühlt wie nur was …
Lesungen und andere Veranstaltungen werden abgesagt, Schlangestehen und Masketragen gehören fortan zum Alltag, und was geht, wird ins Digitale verlagert. Da es nach der Sputnik-Premiere „INF²erno“ keine Vorstellungen im Theater mehr gibt, verbringen wir Zuhause plötzlich jeden Abend zusammen – und das, ohne Ferien zu haben, was in der Tat auch etwas Schönes hat.
Die seltsame Sache mit meinen Augen wird immer seltsamer. Es dauert jeden Morgen länger, bis ich aufhöre, die Welt doppelt zu sehen, also lasse ich mir mitten im Lockdown einen Notfall-Termin in der Augenklinik geben. Wo sonst die Gänge voll sind, herrscht gähnende Leere – das ist eigenartig und erschreckend. Genau wie die Tatsache, dass meine Augenärztin mir umgehend einen Termin beim Chirurgen macht: Die endokrine Orbitopathie ist wieder aufgeflammt, ausgerechnet jetzt muss die Schilddrüse schneller raus!