Gestern habe ich etwas für mich vollkommen Neues ausprobiert: ich besuchte allein ein Konzert in der Philharmonie. Dass der Nachmittag noch in weiterer Hinsicht eher experimentell sein würde, ahnte ich nicht. Denn um die Frage, was Jörg Widmann und das Hagen Quartett spielen würden, hatte ich mich im Vorfeld nicht gekümmert. Und so war ich vermutlich eine der ganz wenigen, die gestern nicht enttäuscht waren.
Aber der Reihe nach. Sehr voll war es nicht in der Philharmonie, wirklich besetzt schienen höchstens die ersten 20 Reihen. Nun ja, dachte ich, vielleicht ist so eine 17-Uhr-Vorstellung nicht jedermanns Sache? Und irgendeinen Grund musste es ja gehabt haben, warum das Konzert für den Gebührenkartenvorverkauf freigegeben war.
Mein Platz nahe der Mitte der 7. Reihe war perfekt – guter Blick auf die Bühne, beste Akustik, und eine interessante Perspektive auf Orgel, Ränge und Beleuchtungs-Ufo über der Bühne selbst. Auf der Bühne: vier Stühle und vier Notenständer gruppiert, etwas dahinter ein weiterer, fünfter Stuhl. Nicht spektakulär, eher ausgesprochen nüchtern. Philharmonie halt. Da gehen die Menschen wegen der Musik hin, um zuzuhören, was sie sehen, scheint bestenfalls zweitrangig.
Die Musiker betreten die Bühne: Veronika Hagen (Viola) schreitet entschlossen voran, Lukas Hagen (Violine), Rainer Schmidt (Violine) und Clemens Hagen (Violincello) folgen. Sie setzen sich, und dann geht es los. Einzelne Töne werden in den Raum entlassen, manche so langsam und solistisch, als sollten sie wie eine Skulptur dort stehen bleiben. Gewisse Passagen erinnern an klassisches Streichquartett, als würde einer der Musiker sich ein altes Stück in Erinnerung rufen, es anspielen, und dann reagieren die anderen darauf. Allerdings nie lang genug, als dass tatsächlich so etwas wie Melodien oder gar Rhythmus entstehen könnte. Eindeutig 20. Jahrhundert, denke ich, ich mag die leisen Stellen und die Momente, die wie abstrakte Filmmusik klingen, finde es spannend, zu so genauem Hören herausgefordert zu sein, aber auch anstrengend. Hinterher lese ich nach, das war Anton Weberns Streichquartett op. post. von 1905, und die Überschriften der Sätze „Düster und schwer“, „Mit großem Schwung“, „Sehr schnell und stark“, „Sehr breit“, „Langsam“ und „Sehr langsam“ passen perfekt zu meiner Wahrnehmung. Musik in Zeitlupe, so kam es mir über weite Strecken vor, was nicht ja nichts schlechtes sein muss.
Das änderte sich nach dem Umbau – es musste tatsächlich ein Techniker kommen, um den fünften Stuhl nebst Notenpult zu den anderen zu stellen – im Klarinettenquintett für Klarinette, zwei Violinen, Viola und Violincello auf den ersten Blick nicht wirklich. Es blieb langsam, gedehnt, wurde jedoch streckenweise maniriert, sehr, sehr bemüht, ‚modern‘ und unkonventionell zu sein. Deutsche Erstaufführung hin oder her, selbst wenn ich auch hier die leisen Stellen mochte und es spannend war zu hören, zu welchen Klängen neben den gewohnten diese Instrumente fähig sind, ich hätte keine 40 Minuten davon gebraucht. Wenn ich ehrlich bin, hört sich diese Art zeitgenössischer Musik für mich an wie Jazz aus dem man allen Rhythmus und jegliche Spiel-Lust entfernt hat. Das ist mir persönlich zu verkopft.
Jörg Widmanns zweite, viel, viel kürzere Solokomposition Fantasie für Klarinette nach der Pause bestätigte den Verdacht. Da steckt viel Arbeit drin, Übung, Können, Nachdenken und Konzeption und ganz sicher mehr Musikwissen, als ich es je haben werde – aber es kommt nichts dabei heraus, was mich berührt, mich gar mitreißen könnte. Und für das synästhetische Erleben fehlt der Rhythmus.
Zum Schluss gab es das „Stadler-Quintett“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Wie leicht und doch gekonnt, wie verspielt und zugleich durchdacht diese Musik im Vergleich daherkam! Und so manch Element, das zuvor modern, zeitgenössisch erschien, erwies sich plötzlich als klassisch. Gut, das beweist wohl schlicht Mozarts viel beschworenes Genie und womöglich dazu noch, wie weit er seiner eigenen Zeit voraus war.
Was aber war der Grund, weshalb man das Programm geändert und für den Einstieg statt Mozart Webern gewählt hatte? Ich hätte davon nichts mitbekommen, hätte mich mein Sitznachbar nicht nach der Pause mit „Und – sind Sie auch so enttäuscht?“ angesprochen, um mir anschließend von der Programmänderung zu berichten. Dass ich nicht enttäuscht sein konnte, weil ich nicht vorinformiert war, verwunderte ihn ein wenig, aber er schien es mir nicht nachzutragen. Im Gegenteil, wir plauderten ein wenig über zeitgenössische Musik, die sich seit den 1960ern kaum weiterentwickelt habe (sein Fachgebiet offenbar) und die Frage, warum ist da so viel weniger Leben drin als im Jazz, obwohl beide Musik“arten“ doch in gewisser Weise verwandt scheinen (mein Thema, wie man sich leicht denken kann).
Und das führt mich zurück zum Ergebnis meines persönlichen Experiments „Mischa allein in der Philharmonie“: das ist definitiv wiederholenswert. Es müssen ja nicht unbedingt Kompositionen von Webern oder Widmann sein. Aber wenn mich das nächste Mal ein Konzert in der Philharmonie reizt (und Widmann als Klarinettist hat dazu allemal das Potenzial, genau wie das Hagen Quartett an sich) und wieder niemand von meinen Freunden mitkommen kann oder will, dann mache ich mich eben alleine auf – und weiß, ich werde mich weder fremd noch einsam oder fehl am Platz fühlen. Statt dessen werde ich konzentriert die Musik erleben und mich an ihr erfreuen, ganz unenttäuscht. 🙂