"Die Büchse der Pandora" – so treffend nannte GW Pabst 1929 seine Verfilmung von Frank Wedekinds Theaterstück "Lulu – eine Monstretragödie". Während der Film GW Pabsts Ruf als psychologischer Regisseur begründete, fiel Wedekinds Stück immer mal wieder der Zensur zum Opfer. Zu skandalös war sein "ewiges Weib", soviel Sexualität auf der Bühne duldete das 19. Jahrhundet nicht. Shirin Khodadians Inszenierung des Stücks in Essen jedoch, die gestern abend Premiere hatte, blieb vor allem eine blutarme Zirkusnummernshow ohne roten Faden.
Ja, okay, das Stück ist nicht einfach und ich frag mich ohnehin, warum Wedekind mit seiner schwülstig-verstaubten Sexualität und seinem zeit-, klassen- und geschlechtsbedingt mehr als verkürztem Blick auf das "Ewigweibliche" (allein der Begriff …) derzeit wieder recht häufig auf deutschen Spielplänen zu finden ist. Aber ich hätte doch gedacht, dass das Stück über die Inszenierung einer Frau inszeniert von einer Frau die eine oder andere Interpretation enthielte.
Pustekuchen. Was recht gelungen und ansprechend zwischen roten Samtvorhängen drapiert über Sperrholzbühnenteilen – Manege trifft auf Bühne und zugleich aufs Bürgertum des 19. Jahrhunderts (Bühne: Ansgar Silies) – mit einer Art Zirkus-Prolog beginnt, verkommt anschließend dank mangelnder Inszenierung zur Nummernrevue. Mal ist’s melodramatisch, mal schwülstig, zwischendrin gibt’s jede Menge Slapstick, manches ist fast akrobatisch, anderes wiederum tragisch – bloß einen Zusammenhang sucht man vergebens.
Warum ist Lulu, wie sie ist? Wer ist Lulu? Mag ja sein, dass Wedekind als heterosexueller Mann des 19. Jahrhunderts glaubte, es gäbe etwas wie das "Ewigweibliche" und das sei, anders als bei Goethe, nichts hehres, sondern gefährliche, männerverschlingende Sexualität pur und damit auch hinreichend definiert – aber, ähm, welcher denkende Mensch, vor allem welche halbwegs intelligente Frau des 21. Jahrhunderts würde sich mit so einem Quatsch zufrieden geben?
Leider ignoriert die Essener Inszenierung diese Frage wie auch jeden anderen, übergeordeneten Bogen so völlig, dass es bei Szenen und Momenten bleibt. So ist Bettina Engelhardt als lesbische Gräfin von Geschwitz zwischendrin sowohl wahrhaft komisch als auch tragisch, doch auf den ganzen Abend gesehen verpufft das in der Beliebigkeit all der anderen Szenen und Szenchen.
Da ist es fast kaum mehr von Belang, dass Barbara Hirt mit ihren wie üblich exaltierten Strampeleien, ihrem hysterischen Ton und dem neurotischen Haareraufen maximal ein Lulu-Abziehbild ist, und dass Andreas Grothgar als Dr. Schöngeist auch an diese Rolle mit so viel Überdruck rangeht, dass am Ende nichts als Unglaubwürdigkeit und Lächerlichkeit bleibt. Da können sich Fritz Fenne, Nikola Mastroberardino, Matthias Eberle und alle andern mühen, es läuft doch alles letztlich ins Leere. Und das ist vielleicht das einzig wirklich tragische an diesem Abend: Wieviel Talent nicht genutzt wird …
P.S.: Ja, ich weiß auch, dass Wedekind sein Bühnenstück in zwei Teilen veröffentlichte, die "Der Erdgeist" und "Die Büchse der Pandora" heißen, und dass sich GW Pabst mithin daran orientiert hat.
P.P.S.: Was ich (noch) nicht weiß: Wird irgendeine offizielle Zeitungskritik die Buhrufe im mauen Premierenapplaus erwähnen?