Ach ja. Als Anatomie Titus Fall of Rome hier in Essen im Februar Premiere hatte, musste ich passen. Gestern hab ich’s nachgeholt und nun sitz ich hier mit meinen Gedanken und Eindrücken. Fang ich doch mit dem besten an, was die Inszenierung zu bieten hat: Nadja Robinè als Lavinia hat mich zutiefst beeindruckt.
Dabei gehört diese Figur zu dem schwersten, was eine Schauspielerin spielen kann; die Söhne der Gotenkönigin vergewaltigen sie und schneiden Titus‘ Tocher Lavinia Zunge und Hände ab, damit sie die Tat respektive die Täter nicht verraten kann — und mithin fehlen auch der Darstellerin diese wichtigen Ausdrucksmittel für ihr Spiel. Nadja Robiné meistert die Situation bravourös und, mehr als das, sie scheint ihre Kollegen mitzureißen. Wenn sie – ob ihr toter Gemahl Bassian (Roland Riebling), ihr Onkel Marcus (Christoph Finger), ihr Bruder Lucius (Raiko Küster) oder auch ihr Neffe Publius (Tim Mackenbrock) – auf Lavinia reagieren, mit ihr agieren, mit ihr umgehen müssen, entstehen die bewegendsten Momente der Inszenierung für mich.
Dann werden die Figuren greifbar und das Spiel hört auf, nichts als ein allzu mechanisch ablaufendes Räderwerk einer Rachegeschichte zu sein. Bringst Du mir den um, nehm ich Dir jenen, dafür töte ich etc. etc. etc. Dummerweise wird nicht erzählt, warum Titus sich für Saturnin und nicht für Bassian als Kaiser entscheidet, und warum Saturnin ein illoyaler, undankbarer Herrscher wird, den wenig außer seiner Kaiserin und Gotenkönigin (Judith van der Werff) interessiert, erschließt sich nicht. Verstehen wie Mitfühlen ist ausgeschlossen, Figuren handeln so und nicht anders, weil es der Text und die Choreographie der Rache es so will – Spannung entsteht nicht, und das Gefühl der Mechanik beherrscht allzu weite Strecken des Bühnengeschehens.
Seltsamerweise gehen die Zuschauer nicht da, wo Langeweile aufkommt und nicht vergehen will. Sie gehen da, wo Blut fließt. Was ich doppelt seltsam finde – okay, nicht jeder mag wissen, dass es Gründe hat, warum Titus Andronicus, ob nun in Shakespeares Fassung oder Müllers Bearbeitung, "die Schlachtplatte" heißt. Aber spätestens nach den ersten Kritiken weiß man, hier fließt reichlich Blut im Namen der Rache. Warum man vor roter Farbe und nachgebastelten Körperteilen die Flucht ergreift, versteh ich nicht. Zumal gerade die, die laut Textbuch besonders grausam sein sollten – die Gotenprinzen Chiron (Atef Vogel) und Demetrius (Ismail Deniz) sowie Aaron (Heiko Ruprecht) – vor allem eines sind: unglaubwürdig. Ob es um sogenannte Kampfszenen, Dialoge oder Monologe geht, nichts davon wirkt annähernd professionell, nichts davon berührt mich auch nur im geringsten. Was einen höchst bizarren Kontrast darstellt zu Lavinia und den Szenen mit ihr …
Nun ja. Jetzt hab ich’s gesehen, und weiß immer noch nicht: Warum bringt man dieses Stück überhaupt auf die Bühne? Was will man mir damit sagen? Und sind die Trendsetter, die in der Möbelbranche den Virus langweilig-weißer Möbel verbreitet haben, jetzt auch beim Theater angestellt, dass dort ein weißes Bühnenbild dem andern folgt …? Fragen über Fragen … aber, immerhin: Es hätte schlimmer kommen können. Dauerlangeweile ist für mich allemal schlimmer, als teils beeindruckt, teils endgenervt aufs Bühnengeschehen zu reagieren.
Hätte schlimmer kommen können
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