Lesereise im Regionalzug

Oder: Von Zombiebahnhöfen, Funklöchern und der Freude des Vorlesens

Vorweg gesagt, ich bin bekennende Bahnfahrerin, auch wenn es um die Reise zu Lesungen geht. Doch in letzter Zeit erweisen sich Bahnreisen immer häufiger als unfreiwillige Abenteuer, und das gilt gewiss auch für so manche Regionalbahnfahrt. Gestern Abend war ich in der Stadtbibliothek Leichlingen zu Gast, wo ich Kurzkrimis las, und die waren sicher nicht das einzig Spannende an der Sache …

Aber der Reihe nach. Als mich die rührige Bibliotheksleiterin Anfang des Jahres per Mail fragte, ob ich am Vorlesetag, dem 17. November, in Leichlingen am Abend eine Lesung für Erwachsene machen wolle, sagte ich sogleich erfreut zu. Mir gefiel der Gedanke, schon so früh im Jahr zu wissen, wann und wo ich den ersten Weihnachtskrimi lesen werde, zumal wenige Klicks bei der Bahn zeigten, von Essen nach Leichlingen gibt es sogar eine durchgehende Verbindung. Das beruhigt mich gerade bei Lesungen ungemein, denn wer möchte schon der Bahn Gelegenheit geben, einen irgendwo in der Pampa mitten in der Nacht an einem einsamen Umsteigebahnhof, womöglich einer schlichten Streckenhaltestelle mit kaputter Beleuchtung, dafür ohne schützendes Dach gegen Wind und Wetter, stranden zu lassen?

Monatelang war der Termin in Leichlingen für mich eine weit(er) in der Zukunft liegende Vorfreude. Er ploppte gelegentlich auf, weil hier und dort administrative Vorbereitungen im Dreieck anstanden (soll heißen: wir reden hier über eine freundlicherweise vom Landesverband der Friedrich-Bödecker-Kreise unterstützte Veranstaltung, sodass manches mit der Bibliothek vor Ort und anderes mit dem FBK zu klären war), und später natürlich inhaltliche Fragen zu besprechen bzw. zu bemailen waren.

Alles ging seinen Gang und das Hauptproblem schien darin zu liegen, dass die meisten meiner Bücher und Kurzgeschichten nurmehr als E-Books oder ausschließlich noch direkt beim Verlag zu erhalten sind, ergo kein Büchertisch mit einer Buchhandlung Sinn machte – und ich als Bahnreisende grundsätzlich keinen Buchverkauf auf eigene Rechnung anbieten kann und will.

Ende Oktober kam und zack, beraubte eine Cyberattacke neben diversen anderen Gemeinden auch Leichlingen seiner digitalen Daten samt ebensolcher Infrastruktur. Als ich ausgerechnet an Halloween im Videotext (was auch immer ich dorthin geführt haben haben mochte … freundliche Samhain-Geister vielleicht?) davon las, ließ mich eine dunkle Ahnung auf die Seite der Bahn gehen.

Tja, was soll ich sagen? Irgendetwas hatte die Bahn offenkundig auf den Gedanken gebracht, es müsse noch ganz dringend etwas gebaut werden auf der Strecke – und das, wo die Wuppertalschiene in den letzten Jahren wahrlich keinen Mangel an Baustellen mit oder ohne Vollsperrungen zu verzeichnen gehabt hätte. Immerhin: Während vorerst Leichlingen nur noch per Schienenersatzverkehr (schönes Wort, hässliche Sache) zu erreichen wäre, sollte das rechtzeitig zu meiner Lesung wieder per Zug gehen, allerdings mit einem Umstieg in Wuppertal-Vohwinkel.

Wuppertal-Vohwinkel, wonach klingt das für Sie? Klein, verwinkelt, gar idyllisch nach Fachwerkhäuschen? Der Bahnhof ist nichts davon. Er ist alt, hässlich, mit sehr langen, gekachelten unterirdischen Gängen, die entfernt an einen längst aufgegebenen Schlachthof erinnern, durch den heutzutage nur noch Zombies streifen. Mitten im November könnte man dort problemlos bereits am Spätnachmittag Horrorfilme drehen.

Wunderbare Aussichten, vor allem, wenn der Übergang auf der Hinfahrt nur wenige Minuten, auf dem Rückweg jedoch über eine halbe Stunde betragen sollte. Es kam, wie es kommen musste: mein Zug sammelte auf dem Weg nach Wuppertal-Vohwinkel einiges an Verspätung, und ich erreichte meinen Anschluss nur, indem ich den unheimlichen Kachelgang von einem zum anderen Ende des Bahnhofs entlang eilte und aufs Gleis hinauf sprintete, wo bereits der RB 48 einfuhr. Immerhin brachte der mich halbwegs pünktlich nach Leichlingen, wo mich die freundliche Bibliotheksleiterin in Empfang nahm.

Dass in der kleinen Bibliothek aus den Siebziger Jahren nicht nur die digitale Infrastruktur nach wie vor weitgehend lahmlag, sondern es überdies auch keinen Handyempfang gab, weil der dazugehörige Sendemast leider dem Brand in der Müllverbrennung zum Opfer gefallen war, auf dessen Dach er stand, war eine verrückte Fußnote, die mich im Lampenfieber im Vorfeld einen Moment aus dem Tritt brachte, aber der Lesung an sich keinen Abbruch tat (um so besser, wenn man bei einer solchen Veranstaltung gar nicht erst von Handygeklingel gestört werden kann). Es gab Wasser, Wein und Knabbereien, und damit die 23 Gäste (mehr passen beim besten Willen nicht in diese kuschlige und anheimelnde Bibliothek) sich nicht dauernd in der Fensterfront hinter der Lesenden spiegelten, angenehm gedämpftes Licht. Beste Voraussetzungen für eine gelungene Krimilesung mit anschließendem Publikumsgespräch. Die lebhafte Diskussion verdankte sich wohl kaum allein dem doppelten Zufall, dass in der ersten Reihe meiner Lesung mit Essener Krimis ein gebürtiger Essener saß, und sich die Dame vom Freundeskreis der Bibliothek als gebürtige Neuwiederin erwies.

Für mich schloss sich der Kreis der seltsamen, aber letztlich ja guten Fügungen am Leverkusener Bahnhof. Der war zwar eine weitere, aber immerhin helle und sehr belebte Baustelle und somit ein guter Ort, sich die halbe Stunde Aufenthalt am vohwinkelschen Geisterbahnhof zu ersparen – erst recht, wo meine S-Bahn und ich praktisch zeitgleich auf Gleis 2 eintrafen. Gemütlich tuckernd und gut bewacht von allerhand Security Leuten – das kannte ich bisher so gar nicht von der Bahn, wohl, weil ich an sich späte Regionalverkehrsfahrten am Wochenende vermeide – kam ich zu später Stunde glücklich nach Hause.

Merke: Es mag zwar unterwegs selten alles nach Plan laufen, aber solange man auf der Reise (und in der Lesung) freundlichen und offenen Zeitgenossen begegnet, ist das am Ende nicht das Schlechteste, sondern ein gutes Bild des Lebens an sich.

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