Ich wüsste gerne, ob andere Menschen sich gelegentlich auch wie trotzige Kinder aufführen, indem sie angesichts ihrer To-Do-Listen und vernünftigen Planungen innerlich mit dem Fuß aufstampfen, die Arme vor der Brust verschränken, heftig den Kopf schütteln und zu sich selbst sagen „Auf gar keinen Fall. Das mache ich jetzt ganz sicher nicht?“ Ich dachte heute früh zum Beispiel, es sei ein guter Tag, meinen Workshop „Übers Überarbeiten“ vorzubereiten, sofern keine Unikorrekturen hereinkämen.
Aber anscheinend habe ich meine heutige Portion Selbstüberwindung auf dem Weg durch Regenguss und Wirbelwind zur Physiotherapie verbraucht, denn obwohl ich einen Anlauf nahm und den ersten zum Workshop eingereichten Text las (ein recht vielversprechender, das muss ich schon sagen), zog mich nach dem zweiten Ausflug ins draußen zwecks Abholen von Überweisungen bei unserer Ärztin nichts dahin zurück. Erstmal Blumen gießen (drinnen, natürlich), Wäsche abhängen, Einkäufe wegräumen, Tee trinken. Aber dann, dann sollte ich, müsste ich, könnte ich doch —
Denkste. Trotzig stampfte ich innerlich auf und wollte nicht mehr. Auch keine Mails schreiben oder gar Steuerzeug bearbeiten – manchmal packt mich am Jahresanfang statt eines ärgerlich die Arbeit verweigernden Trotzkopf eine Art innere Sekretärin, die allerdings meist nur auf der Durchreise ist.
Die Entschlossenheit und der Fleiß, mit denen Irmgard Keuns „Gilgi“ an die Arbeit geht und aus der sie sowohl Selbstbewusstsein als auch Befriedigung zieht, ist mir als Selbstzweck fremd. Gilgi dagegen scheint sich zu verlieren, als sie sich verliebt, und ihr dadurch (Selbst)Disziplin, Arbeit und das ganze Korsett eigener und gesellschaftlicher Erwartungen vorübergehend verloren gehen. Sich selbst überlassen, ist es erstmal aus mit ihrer Energie, ihrem Vorwärtsstreben, als fiele ein Pfeil von der Sehne, weil diese plötzlich durchtrennt ist.
Ob Vera Stanhope, die Ermittlerin in Ann Cleeves „Telling Tales“ je eine solch packende, mitreißende Art von Energie hat? Ganz gleich, aus welchem Blickwinkel man die junge Frau aus dem Köln der 1920er und die mittelalte Kriminalistin betrachtet, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts hoch oben im Norden Englands einem alten und später auch einem ganz aktuellen Mordfall nachgeht, betrachtet, sie bleiben gegensätzlich.
Über Cleeves Geschichte liegt eine seltsame Dunkelheit, Distanz auch, Kühle, etwas Niedergedrücktes und Niederdrückends (aber Mord ist ja auch selten erhebend, erhellend oder lustig) als hätten die Figuren sich damit abgefunden, dass ihre Wege ins Nichts führen. Keuns Untertitel weißt Gilgi zwar als „eine von uns“ aus, aber ob das sein kann, bei dem unbedingten Willen zum fortkommen, dazu, etwas aus sich zu machen, gerade nicht stecken oder stehen zu bleiben?
Cleeves Erzählweise, die aus dem Wechsel personaler Perspektiven ein Kaleidoskop zu schaffen versteht, bei dem die Ermittlerin eine von vielen ist, wenn auch die mit dem größten Gewicht, ist gekonnt und effizient, wenn es um die spannende Erzählung von Kriminalfällengeht. Aber Keuns ganz eigner, atemloser Sprachstil, ihre rasante Erzählweise und die Art, wie sie Bewusstseinsstromtechniken mit auktorialen Einsprengseln mischt, ist einzigartig.
Was auch heißt, diese beiden zu vergleichen, liegt nicht an sich nahe, sondern verdankt sich dem Zufall, dass dies die beiden Bücher sind, die ich zuletzt auslas. Und über die ich längst geschrieben haben wollte. Bloß eigentlich nicht heute … 😉