Ich gebe zu, als ich im Frühjahr meine Geburtstagsgeschenke auspackte und nicht nur sah, sondern vor allem fühlte, wie gewichtig Lydia Davis‚ „Essays“ sind, war ich überrascht. Wo ihre kurzen Erzählungen gern als Kürzestgeschichten mit wenigen Worten auskommen, hatte ich nicht erwartet, dass ihre erste Essay-Sammlung über 500 Seiten umfassen würde und damit obendrein zu schwer wäre, um sie nach Belieben lesend durch die Gegend zu tragen. Um so schmerzlicher werde ich nach all den gemeinsamen Teestunden nun ihr höchst eigensinniges Denken und ihre sprachliche Klarheit vermissen.
Für schreibende Menschen und solche, die es werden wollen, dürfte darin die Rubrik „The Practice of Writing“ besonders interessant sein. In den Essays, die unter dieser Überschrift (bzw. diesen Überschriften, denn es gibt diese Practice als (1) und (2)) versammelt sind, lässt sich die mit dem Man Booker und anderen Preisen ausgezeichnete Autorin bei der Arbeit über die Schulter schauen.
So erfährt man etwa im Essay „Revising One Sentence“, wie ihre oft hochverdichteten, höchst präzisen Formulierungen durch wiederholtes Refelktieren und Überarbeiten erreicht werden und welche Rolle dabei ihr Notizbuch spielt, das stets aufgeschlagen auf dem Schreibtisch neben ihrer „offiziellen“Arbeit liegt. Allein all die ausprobierten und verworfenen Varianten, die die Beschreibung der Art, wie die Autorin in ihrem Haus herumläuft, durchläuft, bevor sie zur der finalen Version kommt:
She walks around the house balancing on the feet, sometimes whistling and singing, sometimes talking to herself, sometimes stopping dead in a fencing position.
Lydia Davis, Essays, p. 175
Wer das nachliest, ohne sich hinterher wenigstens vorübergehend bei Alltagstätigkeiten Gedanken zu machen, wie die wohl am genauesten, präzisesten, besten beschrieben wären, sollte vielleicht die Entscheidung, beruflich schreiben zu wollen, überdenken.
Wie sehr für Lydia Davis Schreiben und Denken verbunden ist, wie sehr Sprache als Mittel der Reflektion auch so etwas wie Lebensmittel ist, zeigt sich an vielen Stellen. Für mich als Autorin, die sich obendrein als Dozentin immer wieder mit Fragen von Gedächtnis und Sein, Identität beschäftigt, bieten Zitate wie das folgende nachhaltiges Gedankenfutter:
My journal als my other mind, what I sometimes know, what I once knew. I consult my other mind and I see although I do not know a certain thing at present, I once knew it; there it is in my other mind.
Lydia Davis, „Fragmentary or Unfinished“, Essays, p. 216
Womit man seinen Geist füttert, was man also liest, gehört zu den möglicherweise unterschätzten Aspekten des Daseins als Schriftstellerin. Ich bin jedenfalls immer wieder verwundert, wenn Kollegen oder Kolleginnen lässig betonen, sie würden ja selbst kaum oder gar nicht lesen. Dabei kann ich Davis Punkt 10 ihrer „Thirty Recommendations for Good Writing Habits“ aus voller Überzeugung unterschreiben:
10. How should you read? What should the diet of your reading be? Readthe best writers from all different periods; keep your reading of contemporaries in proportion – you do not want a steady diet of contemporary literature. You already belong to your time.
You should be reading a lot – reading different kinds of books but also reading in different ways: sometimes fast, and sometimes slowly. Sometimes just absorbing what you are reading, losing yourself; at other times analyzing as you read, developing your awareness of how a writer achieves an effect; sometimes stopping to analyze closely just one sentence or one paragraph
Lydia Davis, Essays, p. 238
Das einzige, was ich hier ergänzend hinzufügen würde, ist: neben Werken aus den unterschiedlichsten Epochen sollte die ausgewogene Kopfnahrung einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers auch immer wieder Texte aus anderen Kulturen beinhalten und schon gar nicht auf ein einziges, gar das eigene Genre, eine einzige Gattung beschränkt bleiben.
Und wo wir gerade beim Lesen sind: was dabei mit der Zeit geschieht, diesem Gedanken folgt Davis im Essay über „Stendhals Alter Ego: The Life of Henry Brulard“:
Whenever we read a book, of course, time, in a sense, collapses: we feel we are reading in the same moment the writer is writing, or that we cause him to speak, and as he speaks we here him – there is no interval, and the converse is also true, that we have only to stop reading for a moment and he stops speaking. What immediate auhtority the handwritten message of a dead parent still has! Reading is the necessary completion of the act of writing.
Lydia Davis, Essays, p. 373
Spreche ich in diesem Moment mit oder zu meinen Leserinnen? Ein schräger Gedanke jetzt, da ich noch schreibe. Und doch so richtig, denn genauso erlebe ich es doch auch, wenn ich lese. Aber was ist, wenn ich lese, was ich einst schrieb – oder lese, während ich schreibe? Escherhafte Bilder entstehen im Kopf – besser, ich kehre zurück zu den Essays. Genauer gesagt, zum letzten des Buches, in dem es um Fragen der Erinnerungen geht, unter anderem um die, warum es uns wichtig ist, etwas korrekt wiederzugeben, selbst, wenn das außer uns vielleicht niemand (mehr) beurteilen kann. Und was ist mit den vermeintlichen Erinnerungen, den Variationen, die diese manchmal im Lauf eines Lebens durchmachen?
So oder so passend und weit darüberhinaus verweist das letzte Zitat:
William Bronk writing it over and over again: that we are each only temporary manifestations of Life. Or at least, this is how I remember it.
Lydia Davis, „Remember the Van Wagenems“, Essays, p. 479
Schöner, weiser Gedanke, wir alle nichts als temporäre Verkörperungen des Lebens sind. Und diese hier, die wartet nun sehnsüchtig darauf, dass bald der zweite Band der Manifestation namens Lydia Davis erscheint.