Zerlesen

Manche Bücher liest man in einem Rutsch, für manch andere nimmt man sich Zeit oder braucht diese einfach. Aber woher weiß man, ob eine Lektüre diese Art der „Zeitdehnung“ verträgt oder man das Buch damit zerliest?

Ob Julian Barnes‘ „The Noise of Time“ und Raija Siekkinens „Wie Liebe entsteht“ etwas gemeinsam haben außer dem Zufall, der dazu führte, dass ich an beiden sehr lange herumlas?

Raija Siekkinens schmaler Erzählband „Wie Liebe entsteht“ fand 2014 als Jahresgabe meiner Lieblingsbuchhandlung Proust zu mir. Julian Barnes‚ „The Noise of Time“ kaufte ich vermutlich 2018 im Koblenzer Hauptbahnhof, das aber ganz bewusst, denn ich hatte Kritiken darüber gelesen und schon länger mal wieder Lust auf einen Roman dieses Schriftstellers gehabt.

Von der Finnin hatte ich zuvor noch nie gehört, geschweige denn etwas gelesen. Überhaupt ist meine Kenntnis finnischer Autoren eher schwach ausgeprägt, ich wüsste nicht einmal sicher zu sagen, ob ich überhaupt je etwas aus „finnischer Feder“ las. Ergo war ich neugierig, doch diese Kurzgeschichten ließen mich ratlos zurück – wobei ich nicht sagen kann, welche Rolle spielte es dabei, dass ich die Geschichten mit oft monatelangen Abständen las? Bei in sich abgeschlossenen Erzählungen sollte das eigentlich nicht schaden, denke ich. Farb- und kraftlos wirken die Figuren darin auf mich. Und ein starkes Bild hinterließ lediglich „Der Mond“, die vorletzte Geschichte im Buch. Die Protagonistin, die nachts um drei das Haus verlässt und nach einer Feier in ihren Highheels die Straße langläuft, die hatte was. Ihr Nachdenken und den Plot – ich glaube, es ging um ihren alten Vater, um Familiendinge – habe ich längst vergessen, doch das Bild ist mir im Kopf geblieben. Vielleicht lese ich die Erzählung irgendwann ein weiteres Mal. Bei allen anderen dachte ich, von der Alttäglichkeit der Inhalte erinnern sie an Alice Munro, aber erstens habe ich mir diese Art leiser Geschichten bereits bei dieser übergelesen und zweitens hat die Kanadierin eindeutig das bessere Gespür für minimalistische Dramaturgie und lakonische Sprache.

‚Übergelesen‘ ist vielleicht auch ein Stichwort, das auf Julian Barnes zutrifft. Clever, modern, oft postmodern, viele seiner Bücher las ich in den 1990ern als Studentin mit großem Genuss, bis ich irgendwann genug davon hatte. Dann der Versuch einer Erneuerung der Bekanntschaft mit „The Noise of Time“. Ein sehr stark durchkomponiertes Buch, bei dem es für mich als in Sachen Musik- und Sowjetgeschichte durchschnittlich gebildeter Person schwer zu sagen ist, wieviel genuin Erfundenes dieses Buch enthält, das als assoziativ gebautes Nachdenken des berühmten Komponisten Schostokawitsch über sein eigenes Leben daher kommt. Auch, wenn es in einer Vielzahl kurzer und kürzester Abschnitte erzählt ist, die etwas von einem Büffet aus lauter Häppchen haben, es ist ein großes Ganzes – nur, wie viel davon habe ich mitbekommen, indem ich es verteilt über ein gutes Jahr las? Wieso reizte es mich nur, dieses Buch stets in Zügen zu lesen (abgesehen davon, dass es natürlich Sinn macht, auf Reisen leichte Bücher mitzunehmen) – aber nie zuhause weiterzulesen? Oder dehnte ich die Lektüre auch, weil ich hoffte, es werde sich zwischenzeitlich Gelegenheit ergeben, eines seiner Werke live zu hören?

Aber dazu kam es nicht, wie ich auch nie für mich klären konnte, ob ich „Die Lady Macbeth von Mzensk„, deren Verbot eine tiefe Krise in Schostakowitschs Karriere und Leben auslöste, kenne oder nicht. Immerhin: im Januar werde ich eine Arbeit von ihm hören. Doch ob ich danach noch einmal einen Blick im Julian Barnes hochgelobten und von mir zer-lesenen Roman werfen werde? Ich habe da meine Zweifel …

 

Dieser Beitrag wurde unter Schreibkram abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.