Kurzkritik: Der Reichsbürger

Ein Gesamtkunstwerk, in sich geschlossen wie manch Weltbild, dabei jedoch ungemein anregendes Hirnfutter, virtuos gespielt von Stefan Diekmann – so lautet meine Kürzestkritik zu Thomas Krupas Inszenierung „Der Reichsbürger“ von Annalena und Konstantin Küspert, das gestern in der Box, auf der kleinsten Bühne des Essener Schauspielhauses, Premiere hatte.

Ganz nah ran ans Phänomen Reichsbürger, das den meisten Menschen sonst eher fremd sein dürfte, kommt man mit Stefan Diekmann in Thomas Krupas Inszenierung des Stückes von Annalena und Konstantin Küspert. (Foto: Martin Kaufhold)

Schon der Einlass ist anders: allein, zu zweit, maximal zu dritt betritt man den Gang zur Box, den Thomas Krupa, der auch für Bühne und Kostüm verantwortlich zeichnet, zu einer dunklen Schleuse gemacht hat. An deren Ende, hinter einem Plastikvorhang, gelangt man in eine Art grauen Betonbunker samt Ausblühungen an den Wänden, altmodischen Stehlampen und einem Schreibtisch ganz in der Ecke, an dem der Reichsbürger Wilhelm (eben Stefan Diekmann) vor sich hin werkelt, während wir Zuschauer uns teils unsicher, teils neugierig umsehen, bevor wir auf stadionartigen Bänken im Betonblocklook Platz nehmen: eine hermetische, fremde Welt hat uns aufgenommen.

90 Minuten lang erfahren wir nun, wie Willem seine Welt, sich und die anderen sieht. Er erklärt, warum er glaubt, die Bundesrepublik existiere nicht als Staat, will uns für seine Sicht der Dinge gewinnen. Verschwörungstheoretische Konstrukte (Stichwort Deutschland GmbH oder Grundgesetz als Nicht-Verfassung etwa) mischen sich mit rechten Ansichten (Nationalismus, Rassismus & Co. lassen grüßen), aber dabei bleibt das Stück nicht stehen. Denn unter den „Selbstverwaltern“ gibt es praktisch jede denkbare politische Couleur – wer wollte etwa Christiania, dem ‚Freistaat‘ in Kopenhagen, unterstellen, etwas mit neu- oder altrechten Möchtegernnachfolge’staaten‘ des Dritten Reichs zu tun zu haben? Und überhaupt: Freiheit, Autonomie, Autarkie – sein eigener Herr sein, und zugleich frei und gleich anderen verbunden, wer wollte das nicht?

Da wird die Sache dann richtig spannend, jedenfalls für mich. Wie, es gibt Gemeinsamkeiten zwischen diesem Reichsbürger und mir? Er ist nicht ganz fremd, vollkommen gaga, total anders. Er ist ein Mensch mit Bedürfnissen, die den meinen in vielerlei Hinsicht gleichen. Aber seine Mittel sie zu erreichen, seine Gedankenkonstrukte, mit denen er sein Handeln zu rechtfertigen sucht, die sind überhaupt nicht meins.

Ich werde nie begreifen, warum irgendwer meint, stolz darauf sein zu müssen, zufällig und ohne eigenes Zutun in einem bestimmten Staat mit einer bestimmten Hautfarbe geboren zu sein, oder warum ein solcher Zufall auch nur irgendwas über mich oder einen anderen Menschen aussagen soll. Bis gestern Abend hätte ich von daher abgewinkt, hätte mir jemand ein Gespräch mit einem realen Reichsbürger vorgeschlagen: wir würden ja eh nie auf einen grünen Zweig miteinander kommen. Auch heute bin ich mir noch sicher, wir würden einander nicht vom Standpunkt des jeweils anderen überzeugen. Aber miteinander reden, sich austauschen, versuchen zu verstehen, was der andere sagt, warum nicht, denke ich heute.

Deshalb: für mich ist „Der Reichsbürger“ großes Theater auf kleinstem Raum, das nachhallt. Allerdings muss ich jetzt endlich weg vom Rechner und auf meine Yogamatte. Denn ein Problem hat der Abend doch: 90 Minuten auf harter Bank ohne Lehne zu sitzen und konzentriert zuzuhören, kann aufs Kreuz gehen. Und das, wo Rückgrat doch in jeder Lebenslage so wichtig ist …

Dieser Beitrag wurde unter Theater abgelegt und mit , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.